Worin besteht die gedankliche Leistung Goethes auf dem Gebiet der Naturwissenschaft, die er noch vor seiner Leistung als Dichter gewürdigt wissen wollte? (WA II 6, S. 126). Grundlage für diese Leistung war ein ungeheurer Erfahrungsschatz, zu erwähnen sind seine intensiven Studien unter anderem auf botanischem, insektenkundlichem und knochenkundlichem Gebiet, die ihn zu Erkenntnissen über die Metamorphose der Pflanzen und Tiere führten. Bekannt ist auch seine Entdeckung des menschlichen Zwischenkieferknochens, womit er nachwies, dass der Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier nicht auf organische Unterschiede zurückzuführen ist, wie bis dahin angenommen.
Goethe ist nicht bei Einzelphänomenen stehengeblieben, sondern zu immer größeren Verallgemeinerungen vorgedrungen, bis zu den Fragen: "Was macht die Pflanze eigentlich zur Pflanze, das Tier zum Tier und den Menschen zum Menschen?" In einem ungeheuren Abstraktionsprozeß hat er alle existierenden Pflanzen zusammengedacht und dafür den Begriff "Urpflanze" geprägt, umgekehrt betrachtet er jede existierende Pflanze als einen Sonderfall der Urpflanze. An die Frau von Stein schreibt er, dass die Urpflanze nur gedacht werden, in Wirklichkeit aber nicht existieren könne (WA IV 8, S. 232).
Goethe hat dem rein Materiellen und Unbelebten in der Natur insgesamt drei Urphänomene des Lebendigen gegenübergestellt, die eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegen und die jeweils den Typus einer ungeheuren Vielzahl von Einzeldingen repräsentieren. Die drei, nicht aufeinander reduzierbaren Urphänomene sind die "Urpflanze", das "Urtier" und das "Urphänomen Mensch". Mit dem Postulat der drei Urphänomene vollzieht
Goethe den Schritt von der Naturwissenschaft zur Naturphilosophie.
Die drei Goetheschen Urphänomene erscheinen sofort in einem helleren Licht, wenn man zu ihrer Veranschaulichung die Seelenlehre des Aristoteles heranzieht
9. Goethe hat sich mehrfach auf Aristoteles berufen, so in der Farbenlehre, der Poetik und Ästhetik. Mir ist jedoch kein Hinweis bekannt, dass er die Seelenlehre des Aristoteles im einzelnen gekannt hat; es scheint eher so, dass er über Dritte in Umrissen von dieser Lehre Kenntnis erhielt
10. Die vier Stufen der Natur, die Goethe in seinen Morphologischen Schriften unterscheidet, deuten darauf hin: die vier Stufen sind „das Unorganische, das Vegetative, das Animale und das Menschliche“ (WA II 6, S. 446). Die folgenden zwei Zeugnisse weisen darauf hin, dass Goethe Nachholbedarf in Bezug auf die aristotelische Naturphilosophie verspürte: „Stünden mir jetzt, in ruhiger Zeit jugendlichere Kräfte zu Gebot, so würde ich mich dem Griechischen völlig ergeben, trotz aller Schwierigkeiten, die ich kenne; die Natur und Aristoteles würden mein Augenmerk sein“ (WA IV 42, S. 104) und: „Aristoteles hat die Natur besser gesehen als irgend ein Neuerer“ ( WA V 6, S. 329).
Nach Aristoteles hat jedes Lebewesen etwas, was ein unbelebtes Ding nicht hat; er nennt dieses „Etwas“ Seele. In seiner Seelenlehre definiert Aristoteles die „Seele“ als das „Prinzip der belebten Wesen“
11; die Seele ist diesen Wesen eigen und nicht von einer höheren Macht geliehen oder verliehen, d. h. Seele ist etwas Natürliches und nicht etwas Übernatürliches. Die aristotelische Seele ist somit etwas völlig anderes, als das, was uns durch die christliche Dogmatik unter der Bezeichnung "Seele" überliefert wurde.
Die Seele kann nach Aristoteles aus mehreren Teilen bestehen. Der Seelenteil, den ausnahmslos alle Lebewesen im Gegensatz zu den unbelebten Dingen besitzen, wird als "vegetative Seele" oder "Vitalseele" bezeichnet; die vegetative Seele verleiht den Lebewesen die Fähigkeit zur Nahrungsaufnahme, zum Wachstum und
zur Fortpflanzung. - Nun hat aber das einfachste Tier etwas, was keine der Pflanzen, auch nicht die am höchsten stehende besitzt; es scheint also so, als ob Tiere mehr Seele besitzen als Pflanzen
12.
Dieses "Mehr" an Seele rührt nach Aristoteles von einem Seelenteil her, den die Tiere zusätzlich zur vegetativen Seele besitzen, dieser Seelenteil wird als "sensitive Seele" bezeichnet. Aristoteles nennt das, was die Tiere, nicht aber die Pflanzen besitzen, "ein Mittleres"
13; heute sagen wir dazu "zentrales Nervensystem", dieses ist für die niedere Gehirntätigkeit und das niedere oder geistlose Bewußtsein der Tiere und Menschen verantwortlich. - Und schließlich hat der Mensch etwas, was keines der Tiere, auch nicht das am höchsten stehende Tier besitzt. Der Mensch scheint damit wiederum mehr Seele zu besitzen als ein Tier; dieses "Mehr" ist der als "Geistseele" bezeichnete Seelenteil, der ausschließlich dem Menschen zukommt. Die Geistseele ist Ursprung der höheren Gehirntätigkeit und des höheren oder geistigen Bewußtseins des Menschen; sie verleiht dem Menschen, und
nur ihm, die Fähigkeit des durch Sprache und Schrift vermittelten begrifflichen Denkens.- Nach Aristoteles stellt die Reihe vegetative Seele - sensitive Seele - Geistseele eine Rangfolge dar, d.h. der ranghöhere Seelenteil herrscht über den rangniedereren.
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Die Grundbegriffe der Goetheschen Naturphilosophie, "Urpflanze", "Urtier", "Urphänomen Mensch", sind völlig zwanglos mit denen der Aristotelischen Naturphilosophie, "vegetative Seele", "sensitive Seele", "Geistseele", in Beziehung zu setzen. Man kann diese Beziehungen in Form symbolischer Gleichungen ausdrücken:
Anschaulicher ist eine pyramidenförmige Darstellung, aus der unmittelbar hervorgeht, dass die höherrangigen Prinzipien oder Seelenteile über die niederrangigen herrschen (
Abb. 1). Das Leben baut sich danach wie eine Stufenpyramide auf, von den niederen zu den höheren Stufen; die Pyramide besteht bei den Pflanzen aus zwei, bei den Tieren aus drei und bei den Menschen aus vier Stufen. Die unterste Stufe besteht jeweils aus dem (materiellen) Körper des jeweiligen Lebewesens.
Goethe spricht von Aristoteles als von einem Baumeister, der sich das Naturgebäude pyramidenartig in die Höhe gebaut denkt (WA II 3, S. 141). Schiller benutzt im Blick auf den Naturwissenschaftler Goethe ebenfalls das Bild vom Baumeister, wenn er 1794 in seinem Geburtstagsbrief an Goethe kurz nach der denkwürdigen „freundlichen Begegnung“ in Jena schreibt:
Schiller hat wie kein noch so prominenter Vertreter der modernen Naturwissenschaft die wahre Bedeutung der Goetheschen Naturwissenschaft erkannt, die den Menschen als Teil der Natur ansieht und deren höchstes Ziel es ist, Auskunft über den Menschen zu erlangen.
Dem ganzheitlichen Weltbild Goethes und Aristoteles' steht das Weltbild der modernen Naturwissenschaft gegenüber. Diese Wissenschaft geht davon aus, dass alle natürlichen Dinge eine materielle Grundlage haben. Sie interpretiert den richtigen Satz „Alles in der Natur ist auch materiell“ um und behauptet: „Alles in der Natur ist nur materiell“. Durch das Wörtchen "nur" wird die Sicht auf die Welt grundlegend verändert. Die von dem ganzheitlichen Weltbild beschriebene vielschichtige Wirklichkeit wird plattgewalzt auf eine materielle Teilwirklichkeit.
Der Stufenaufbau der natürlichen Dinge wird negiert, Unbelebtes, Pflanzen, Tiere und Menschen sollen sich nicht mehr prinzipiell (d.h. hinsichtlich der Art und Anzahl der obwaltenden Prinzipien), sondern allein hinsichtlich ihrer Komplexität
15 unterscheiden (
Abb. 2). Diese Behauptung, die von der modernen Naturwissenschaft allgemein akzeptiert worden ist, wurde aufgestellt, bevor es diese Wissenschaft auch nur ansatzweise versucht hat, einen Komplexitätsgrad zu definieren, um damit Nichtleben von Leben,
die Pflanze vom Tier, das Tier vom Menschen unterscheiden zu können.