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Mit Goethe und Aristoteles   
zurück zur Vernunft

 

  Das Buchprojekt
"Mit Goethe und Aristoteles zurück zur Vernunft"

 
Teil II   Der Aristoteles-Komplex
            -  Grundlagen für eine ganzheitliche Naturwissenschaft
J. W. v. Goethe
Aristoteles
 
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Die Illusion von der Einheit der Wissenschaften – Vom Weltbild Einsteins zum Weltbild des Aristoteles.1

 

     A.  Modell der lebenden Zelle
     B.  Die drei informationserzeugenden Prozesse der Natur
     C.  Die dreigeteilte Seele des Aristoteles und die vier Seinsschichten der realen Welt
     D.  Die vier Grundwissenschaften
     E.  Die Weltbilder von Aristoteles und Einstein
     F.  Epilog

     G.  Anmerkungen
     H.  Ankündigung des Vortrags



1 Dieser Aufsatz ist die überarbeitete Form eines Vortrags gleichen Titels, der am 15. 12. 1993 im Rahmen der Mainzer Universitätsgespräche WS 1993/94 zum Thema „Einheit der Wissenschaften?“ gehalten wurde.
 
   In seinen »Maximen und Reflexionen« sagt Goethe: "Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken." Es war wohl eine günstige Konstellation, die mich auf etwas hinführte, das vor langer Zeit gedacht und dann wieder vergessen wurde und das es wert ist, heute noch einmal gedacht zu werden.
   Ich war als Physiker im Jenaer Zentralinstitut für Mikrobiologie der DDR-Akademie der Wissenschaften tätig und meine Dienstaufgaben ließen mir genügend Zeit, in den letzten zwei Jahrzehnten vor meiner Pensionierung einem selbstgewählten Forschungsziel nachzugehen, dessen Objekt ein Darmbakterium mit dem Namen Escherichia coli war. Die Colizelle gilt als das am besten analysierte und am besten verstandene Lebewesen überhaupt, da nahezu alle Strukturen, die in dieser Zelle vorhanden sind, und nahezu alle Prozesse, die sich in dieser Zelle abspielen, bekannt sind. Ich begann damit, alle Daten und Fakten, die in der Literatur über die Strukturen und Prozesse dieses Organismus veröffentlicht wurden, zu sammeln, dieses Material zu ordnen, zu bewerten und zu formalisieren. Der letzte Schritt war dann die Beschreibung des Lebensfahrplans der lebenden Escherichia coli-Zelle mit mathematischen Mitteln oder, anders gesagt, der Aufbau eines ersten groben mathematischen Modells der lebenden Coli-Zelle.
   Als diese Arbeiten abgeschlossen waren, stellte sich mir immer drängender die Frage, welche Bedeutung diesem Modell einer lebenden Zelle eigentlich zukommt. Das Modell beschreibt etwas, was die lebende Coli-Zelle von einem leblosen Materieklümpchen gleicher Zusammensetzung unterscheidet und was als das know how für das Leben dieser Zelle bezeichnet werden kann. Mit anderen Worten, das Modell repräsentiert (wenn auch nur näherungsweise) das Lebensprinzip dieser Zelle. Was dabei entscheidend ist, dieses Lebensprinzip läßt sich auffinden, ohne irgendwelche Begriffe und Prinzipien der Physik heranzuziehen. Ich begann, viel zu lesen und mich für Philosophie zu interessieren. Schließlich gelangte ich zu der Erkenntnis, dass ein Lebensprinzip schon vor über 2000 Jahren postuliert und mit einem Namen versehen worden ist, es ist die Entelechie oder Vitalseele des griechischen Philosophen Aristoteles.
    Die Monate, in denen ich erkannte, dass ein Lebensprinzip existiert und sich nachweisen läßt, waren die aufregendsten in meinem Leben, genauer gesagt in meinem Denken. Das materialistische Weltbild, welches ich bis dahin als Physiker hatte, sank in Trümmer und aus den Trümmern entstand ein neues, ein ganzheitliches Weltbild. Das Weltbild der Physik, das mit dem Weltbild der modernen Naturwissenschaft übereinstimmt und das tiefe Wurzeln im Denken der westlichen Gesellschaften geschlagen hat, geht davon aus, dass die Welt ausschließlich materieller Natur ist; die vielfach vermutete Existenz übermaterieller Phänomene und die Vorstellung, dass einer wirklichen Wissenschaft von der Natur nur ein ganzheitliches Weltbild angemessen ist, werden in das Reich der Phantasie verwiesen. Das materialistische Weltbild ist untrennbar mit dem Glauben verbunden, dass unter den Geisteskräften des Menschen allein das zweckorientierte rationale Denken in der Lage ist, die Welt zu erkennen.
   Der Übergang von einem materialistischen zu einem ganzheitlichen Weltbild war ein außerordentlich schwieriger gedanklicher Prozeß. Rückblickend ist mir klar geworden, dass es für jeden Naturwissenschaftler einen Schlüssel gibt, um aus dem Gefängnis des materialistischen Weltbildes auszubrechen. Dieser Schlüssel ist die Frage, worin der wesentliche Unterschied zwischen der Biologie als der Wissenschaft vom Leben und der Physik als der Wissenschaft von der Materie besteht. Die Antwort: Beide Wissenschaften unterscheiden sich in der zentralen Bedeutung, die der Begriff der Information in der Biologie, nicht jedoch in der Physik besitzt.
   Wir wissen heute, dass jedes Lebewesen eine Nachricht enthält, die mit Hilfe eines Vier-Buchstaben-Alphabets in ein (oder mehrere) DNA-Riesenmolekül(e) eingraviert ist, ähnlich wie eine Schrift in eine Druckmatrize. Diese Nachricht, die in die Zukunft hinein von einer Generation des Lebewesens an die nächste weitergegeben wird, wird als genetische Information des Lebewesens bezeichnet.
    Wenn ein Modell der lebenden Zelle seinem Anspruch überhaupt gerecht werden will, dann muss es eine Aussage enthalten, in welcher Weise die genetische Information in die Gesamtheit der in diesem Lebewesen sich abspielenden Lebensprozessen einzuordnen ist.

 

 

Zur  Ansicht der größeren Abbildungen klicken Sie bitte auf die kleinen.

siehe Abb. 1
Abb. 1





































siehe Abb. 2:


zur Abb. 2
A. Modell der lebenden Zelle
    Um eine Vorstellung über das Modell einer lebenden Zelle zu vermitteln, sollen zwei verschiedene Darstellungsweisen verwendet werden. Zunächst wird das Modell für die mathematisch interessierten Leser mit etwas abstrakten Worten beschrieben und danach wird die Sachlage für den mathematisch nicht vorgebildeten Leser allgemeinverständlich dargestellt. Wenn von den spezifischen Lebensprozessen einer Zelle die Rede ist, so sind darunter alle Prozesse zu verstehen, die nur in einer lebenden Zelle und nicht in einer toten Zelle bzw. in einem Reagenzglas ablaufen, wie z.B. Prozesse der Nahrungsaufnahme, des Stoff- und Energiewechsels, des Wachstums und der reproduktiven Vermehrung.
    Bei dem Versuch, die spezifischen Lebensprozesse einer Bakterienzelle mit einem mathematischen Modell zu beschreiben (Bleecken, 1990), stellte sich heraus, dass dieses Vorhaben nicht in einem Anlauf, sondern nur schrittweise und unter Beachtung strenger Regeln zu bewältigen ist (Abbildung 1):
1.
Zuerst müssen alle Lebensprozesse in eine hierarchische Ordnung gebracht werden (siehe rechte Pyramide).
2.
Es ist mit der Modellierung der höchstrangigen Lebensprozesse zu beginnen (siehe mittlere Pyramide). Das Resultat ist ein grobes Zellmodell in erster Näherung.
3.
Durch schrittweise Einbeziehung niederrangigerer Lebensprozesse erhält man Modelle höherer Ordnung, die das Verhalten der Bakterienzelle mit immer besserer Näherung zu beschreiben gestatten.
4.
Das Modellierungsverfahren ist dann beendet, wenn auch die Lebensprozesse mit dem niedrigsten Rang berücksichtigt worden sind. Man erhält dann ein Grenzmodell höchster Näherung.
5.
Die Lebensprozesse mit dem niedrigsten Rang sind die Prozesse, bei denen der Träger der genetischen Information direkt beteiligt ist, das sind erstens der Prozeß der sogenannten DNA-Replikation, der zur identischen Verdopplung des Informationsträgers führt, und zweitens die Prozesse der Genexpression, welche die genetische Information zur Herstellung von Biomolekülen verwenden. Daraus folgt, dass die genetische Information Bestandteil des Grenzmodells höchster Näherung ist.
Das Grenzmodell repräsentiert das Lebensprinzip des betreffenden Organismus und hat die Qualität einer Information; wir bezeichnen diese Information als Systemische Information (Abbildung 1, linke Pyramide). Aus dem eben Gesagten folgt dann, dass die auf einem DNA-Riesenmolekül fixierte genetische Information als ein Bestandteil der durch einen mathematischen Formalismus beschreibbaren systemischen Information verstanden werden muss. Die genetische Information ist der invariante und auf einem materiellen Träger gespeicherte Teil der systemischen Information eines Lebewesens; der Träger der systemischen Information ist das Lebewesen selbst.
    Abbildung 2 stellt den eben beschriebenen Tatbestand nochmals in allgemein-verständlicherer Form dar. Die für die Materie geltenden Gesetze der Physik (und Chemie) sind gleichermaßen im Inneren einer lebenden Zelle als auch außerhalb derselben gültig. Während die Gesetze der Physik im Außenmedium gewissermaßen sich selbst genügen, werden diese Gesetze im Inneren der Zelle von der Zelle für ihre eigenen Ziele ausgenutzt. Das dafür notwendige know how der Zelle bezeichnen wir als systemische Information die mit mathematischen Mitteln beschrieben werden kann. Dieses know how der lebenden Zelle erinnert an das know how , welches in einer vom Menschen gemachten Maschine steckt. Mit Hilfe einer Maschine ist es ja dem Menschen möglich, die Gesetze der Physik für seine Zwecke auszunutzen.
Wir können die lebende Bakterienzelle nicht nur als eine Maschine, sondern darüber hinaus als ein informationsverarbeitendes System verstehen, welches mit Hilfe der systemischen Information die beteiligten materiellen Prozesse im Interesse der Zelle steuert. Dieses lebende informationsverarbeitende System Zelle benötigt wie jedes informationsverarbeitende System der Technik einen materiellen Träger zur Informationsspeicherung; in der Technik, z. B. in einem Computer, übernimmt diese Aufgabe ein Magnetband oder eine Diskette, in der lebenden Zelle ein DNA-Riesenmolekül. Die auf dem DNA-Molekül gespeicherte genetische Information ist der speicherbare und invariante Anteil der systemischen Information.














siehe Abb. 3

zur Abb. 3






















siehe Abb. 4
zur Abb. 4


B. Die drei informationserzeugenden Prozesse der Natur

Als nächstes soll der Frage nachgegangen werden, wie denn die systemische und genetische Information eines Lebewesens entstanden sind. Seit Darwin wissen wir, dass alle Lebewesen durch einen historischen, als Evolution bezeichneten Prozeß entstanden sind. Die Evolution wird vorwärts getrieben durch die Variabilität der Lebewesen, die Überproduktion von Nachkommen und die Auslese der an die Umwelt am besten angepaßten Formen. Auslösender Faktor für die Variabilität der Lebensformen ist eine als Mutation bezeichnete zufällige Änderung der genetischen Information eines Lebewesens, die eine neue systemische Information und damit eine neue Lebensform hervorruft. Immer dann, wenn sich die neue Lebensform in der Auseinandersetzung mit der Umwelt durchsetzen kann, tritt ein Fixpunkt der Evolution in Form eines neuen Lebewesens auf.
Die Evolution erscheint somit als ein Spiel von Versuch und Irrtum, verbunden mit der dem Abspeichern der genetischen Information, wenn eine neue konkurrenzfähige Lebensform, d.h. ein Fixpunkt auftritt (Abbildung 3). Die genetische Information kann als Spielmaterial des Evolutionsprozesses betrachtet werden. In der Abbildung sind drei Möglichkeiten angedeutet, wie die Evolution von einem Fixpunkt aus weitergehen kann. Der linke Weg repräsentiert einen Irrtum der Evolution, er führt zu einer letalen Mutante. Der mittlere Weg ist erfolgreich, er führt zu einer neuen stabilen Lebensform, d.h. zu einem neuen Fixpunkt. Das Ergebnis des rechten Weges ist noch offen.
Auf Grund der Rolle, die der Zufall spielt, läßt sich der Weg der Evolution nicht mit mathematischen Mitteln beschreiben und somit nicht vorhersagen. Eine ganz andere Situation tritt an den Fixpunkten der Evolution auf. Beispielsweise ist für eine Coli-Zelle und ihre Nachkommen die genetische Information konstant (solange keine Mutation auftritt). Diese Konstanz bzw. die Irrelevanz des Zufalls sind die Gründe dafür, dass die Lebensprozesse der Coli-Zelle mit mathematischen Mitteln beschrieben und das Verhalten der Zelle vorausgesagt werden kann.
Die Evolution als Ganzes gesehen ist ein informationserzeugender Prozeß, der zur Entstehung einer Vielzahl verschiedenartiger Lebewesen geführt hat. Bisher wurde davon ausgegangen, dass das Spielmaterial, welches von der Evolution benutzt wird, die an einen materiellen Träger gebundene genetische Information ist. Damit ist aber nur die Entstehung der einzelligen Lebewesen und der vielzelligen Pflanzen, nicht aber das Entstehen der Tiere und des Menschen zu verstehen. Damit Tiere und Menschen entstehen konnten, musste die Evolution außer der erwähnten genetischen Information noch zwei andere, als Spielmaterial verwendbare Informationskategorien und damit auch zwei neue Träger zur Informationsspeicherung erfinden (Abbildung 4).
Bei der niederen Gehirntätigkeit der Tiere werden zur Informationsspeicherung anstelle von Molekülen Zellen verwendet, nämlich die im Gehirn miteinander vernetzten Neuronen. Die Gehirntätigkeit ist ein der biologischen Evolution analoger informationserzeugender Prozeß, auch hier ein Spiel von Versuch und Irrtum, verbunden mit der Abspeicherung günstiger Varianten im Gedächtnis als neuronale Information. Das Verhalten eines Tieres wird wesentlich durch die niedere Gehirntätigkeit bestimmt. Diese ist als informationserzeugender Prozeß nicht formalisierbar und voraussagbar und damit ist auch das Verhalten eines Tieres - anders als das einer Coli-Zelle - nicht voraussagbar.
Das Verhalten des Menschen wird wesentlich durch die nur bei ihm realisierte höhere Gehirntätigkeit bestimmt, welche die auch bei ihm vorhandene niedere Gehirntätigkeit überlagert. Dazu musste eine weitere neue Qualität der Informationsspeicherung hinzukommen, nämlich die Speicherung von durch Sprache und Schrift vermittelter begrifflicher Information. Mit seiner im Vergleich zum Tier höheren Gehirntätigkeit besitzt der Mensch die Fähigkeit des begrifflichen Denkens und damit auch die Fähigkeit, das in seinem individuellen Leben Gelernte mit Artgenossen auszutauschen, d.h. er besitzt die Fähigkeit zum gesellschaftlichen bzw. kulturellen Lernen. Natürlich gilt das für das Tier hinsichtlich der Nichtvoraussagbarkeit seines Verhaltens Gesagte in noch höherem Maße für den Menschen.




siehe Abb. 5

zur Abb. 5 - die dreigeteilte Seele des Aristoteles











siehe Abb. 6

zur Abbildung 6
 

C. Die dreigeteilte Seele des Aristoteles und die vier Seinsschichten
der realen Welt

  Wer sich mit dem Seelenbegriff der antiken Philosophen beschäftigt hat, stellt eine bemerkenswerte Ähnlichkeit fest zwischen der in Abbildung 5 skizizerten dreigeteilte Seele des Aristoteles und den drei Prozeßkategorien in Abbildung 4. Als Ausgangspunkt für die Klassifikation der Lebewesen diente Aristoteles die Überlegung, dass die Form dieser Wesen die Seele sein müsse. Seele besitzen ist bei ihm nur ein anderer Ausdruck für leben . Nun bedeutet aber Seele besitzen nicht dasselbe für eine Pflanze, ein Tier und einen Menschen. Pflanzen scheinen weniger beseelt zu sein als Tiere und jene wiederum weniger als Menschen. Organismen die nur vegetieren, besitzen nach Aristoteles eine Vital- oder vegetative Seele (die er in anderem Zusammenhang auch als Entelechie bezeichnet), bei den Tieren kommt eine animale oder sensitive Seele hinzu und beim Menschen dann noch eine Vernunft- oder Geistseele. Die Phänomene, für welche die drei Seelenteile verantwortlich sind, sind im rechten Teil von Abbildung 5 angegeben.
    Von besonderer Wichtigkeit ist es, wie Aristoteles das Verhältnis zwischen der Seele als Lebensprinzip und dem zugrundeliegenden Körper eines Lebewesens gesehen hat. Am Anfang des zweiten Buches von De anima heißt es dazu: Die Seele gibt es weder ohne Körper noch ist sie ihrerseits Körper , und dann: Sie (die Seele) ist zwar nicht Körper, wohl aber etwas an einem Körper . Hier wird ganz deutlich herausgestellt, dass einerseits ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Körper und Seele vorhanden ist (Seele ist nicht Körper), als auch andererseits eine unlösbare Gebundenheit der Seele an den Körper existiert (Seele gibt es nicht ohne Körper). Die Seele mit ihren drei Bestandteilen ist bei Aristoteles den menschlichen Sinnen und der menschlichen Erfahrung zugänglich und kein übersinnliches oder übernatürliches Phänomen.
    Aristoteles hat sehr klar herausgestellt, in welcher Beziehung die drei Seelenteile zueinander und zu dem zugrundeliegenden Körper stehen und hat damit die Grundlage gelegt für die Lehre von den vier Seinsschichten, die von dem Philosophen Nicolai Hartmann am klarsten formuliert wurde (Abbildung 6). Danach gibt es vier Seinsschichten, in aufsteigender Reihenfolge bezeichnet als Körperlich-Materielles, Organisch-Vegetatives, Sensitives und Geistiges. Die höhere Schicht ruht auf der niederen, sie ist von ihr abhängig und nicht abtrennbar. Die höhere Schicht ist aber auch selbständig gegenüber der niederen Schicht und zwar durch das Auftreten eigener Prinzipien, die in der niederen Schicht noch nicht vorhanden sind.
     Die für die vier Schichten charakteristischen Prinzipien sind in der dritten Spalte von Abbildung 6 angegeben. Das Prinzip für das Materielle wird durch die Gesetze der Physik repräsentiert. Für das Organische ist es das Prinzip der systemischen Information, nach Aristoteles als Vitalseele, vegetative Seele oder Entelechie bezeichnet; der speicherbare Anteil dieses Prinzips ist die genetische Information; dieses Prinzip ist formalisierbar,solange keine Änderung der genetischen Information eintritt. Das Prinzip für das Sensitive hat keinen wissenschaftlichen Namen, es entspricht der sensitiven Seele des Aristoteles; das Prinzip ist nichtformalisierbar, der speicherbare Anteil dieses Prinzips ist die neuronale Information. Das Prinzip für das Geistige hat ebenfalls keinen wissenschaftlichen Namen, es entspricht der Geistseele des Aristoteles. Das Prinzip ist nichtformalisierbar, der speicherbare Anteil dieses Prinzips ist die begriffliche Information. Unbelebte Dinge sind danach einschichtig, Pflanzen und einzellige Lebewesen zweischichtig, Tiere dreischichtig und der Mensch vierschichtig.
   Bisher wurde angenommen, dass die Grenze zwischen voraussagbaren und nichtvoraussagbaren Phänomenen zwischen leblosen Dingen und Lebewesen liegt und dass diese Grenze nicht von prinzipieller Natur, sondern durch die Komplexität der Lebewesen bedingt ist (gestrichelte Linie in Abbildung 6). Diese Annahme muss revidiert werden. Die rote Linie in Abbildung 6 trennt die Seinsschichten mit formalisierbaren Prinzipien von denen mit nichtformalisierbaren Prinzipien. Daraus folgt, dass die genannte Grenze zwischen pflanzlichen und tierischen Lebewesen verläuft und von prinzipieller Natur ist.
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siehe Abb. 7
zur Abb. 7

D. Die vier Grundwissenschaften

Da für jede Seinsschicht eigene Prinzipien gelten, entspricht jeder Seinsschicht eine Grundwissenschaft (Abbildung 7), dem Materiellen die Physik, dem Organischen die Biologie, dem Sensitiven die Psychologie und dem Geistigen die Geisteswissenschaften. Von diesen vier Grundwissenschaften ist aber nur die Physik eine homogene Wissenschaft mit einem einheitlichen Erkenntnisideal. Die Biologie besteht im Grunde aus drei verschiedenen Biologien, die sich im Erkenntnisideal, in der Methodologie und in der Stellung zum Determinismus unterscheiden. Zum ersten gibt es eine Biologie der Teile, repräsentiert durch die Molekularbiologie. Das Erkenntnisideal dieser Biologie ist es, das Leben in seinen elementaren Teilen und den Wechselwirkungen dieser Teile zu verstehen. Zum zweiten gibt es eine Biologie des lebenden Ganzen, repräsentiert durch die Systembiologie. Das Erkenntnisideal dieser Biologie ist es, das Leben in seiner Individualität zu verstehen. Und zum dritten existiert eine Biologie des Überganzen, repräsentiert durch die Evolutionsbiologie. Das Erkenntnisideal dieser dritten Biologie ist es, das Leben in seiner Entwicklung und Verschiedenartigkeit zu verstehen. Allein die erste und die zweite Biologie haben es mit formalisierbaren und voraussagbaren Phänomenen zu tun (die zweite Biologie zumindest bei einfachen Lebewesen mit konstanter genetischer Information), die Evolutionsbiologie hat es dagegen mit nicht formalisierbaren und nicht voraussagbaren Erscheinungen zu tun.
Der Übergang von der Physik zur Biologie ist der Übergang in einen neuen, höheren Seinsbereich. Dieser Übergang ist gekennzeichnet durch die Aufspaltung der höherrangigen Wissenschaft in mehrere Teilbereiche und dem Verlust der Voraussagbarkeit in einem der Teilbereiche. Beim Übergang von der Biologie zur Psychologie und weiter zu den Geisteswissenschaften ist zu erwarten, dass die Aufspaltung der Grundwissenschaft in Teilbereiche weiter zunimmt und der Grad der Voraussagbarkeit weiter abnimmt.
 

E. Die Weltbilder von Aristoteles und Einstein

   Um das Weltbild, das Aristoteles in seiner Seelenlehre entwickelt hat, in einen größeren Rahmen einordnen zu können, sollen die Grundzüge dieses Weltbildes mit denen eines anderen, ebenfalls rational begründeten Weltbildes verglichen werden, des Weltbildes der modernen Naturwissenschaft.
   Eine der größten Leistungen des Aristoteles ist die Erkenntnis, dass zur Beantwortung der Frage Was ist der Mensch? auch die Fragen Was ist ein Tier? und Was ist ein Lebewesen? beantwortet werden müssen. Er fand die Antwort in einer als Stufenleiter der Natur bezeichneten hierarchischen Ordnung von drei Prinzipien (Seelenteilen) für die Lebewesen, denen dann noch ein Prinzip für das Körperlich-Materielle untergeordnet ist. Das höherrangigere Prinzip greift jeweils in das Geschehen organisierend ein, das sich in der nächstniedrigeren Stufe abspielt. Aristoteles hat die Natur als Ganzes in seine Überlegungen einbezogen und war er der Erste, der ein ganzheitliches Weltbild begründet hat, und zwar im wesentlichen auf der Grundlage von Beobachtungen.
    Obwohl der Gesamtphilosophie des Aristoteles im abendländischen Denken ein große Wirkung nachgesagt wird, kann dies von seinem Weltbild nicht behauptet werden. Während die Scholastik des Mittelalters noch versuchte, das aristotelische Weltbild in das ihre zu integrieren und es dabei in wesentlichen Zügen verfälschte (eine nicht an den Körper gebundene und unsterbliche, d. h. von Gott kommende Seele), nimmt die neuzeitliche Naturwissenschaft dieses Weltbild gar nicht mehr wahr, da es ihrem Wissenschaftsideal der Naturbeherrschung diametral entgegensteht. Heute ist man der Überzeugung, dass seit Galilei, der Messung und Experiment in die Naturwissenschaft einführte, die naturwissenschaftliche Forschung von philosophischen und theologischen Spekulationen befreit und auf Beobachtungen gegründet ist. Es wird nur noch dasjenige als existent angesehen, was gemessen, quantifiziert und formalisiert werden kann. Indem er die von Kepler und Galilei gefundenen Gesetze kombinierte, gelang Newton die Formulierung der allgemeinen Bewegungsgesetze, aus denen sich alle damals bekannten Phänomene der terrestrischen und Himmelsmechanik deduzieren ließen. Die Physik Newtons stellte die erste geschlossene mathematische Theorie der Welt dar, aus der sich nicht nur Bekanntes ableiten, sondern auch Unbekanntes voraussagen ließ. Die Erfolge der neuen wissenschaftlichen Methode zur Erforschung der Eigenschaften der Materie waren so überraschend groß, dass sich bei vielen Wissenschaftlern und gerade auch bei den hervorragensten Denkern unter ihnen die Erwartung einschlich, dass alle Naturphänomene einschließlich die des Lebens rein materieller Natur sind und mit dem für die Materie geltenden Prinzip verstanden werden können. Die Physik entwickelte ein modernes, materialistisches Weltbild, das von den übrigen Naturwissenschaften weitgehend übernommen wurde.
   Am eindeutigsten ist das materialistische Weltbild von Albert Einstein formuliert worden. In der Rede, die Einstein zum 60. Geburtstag von Max Planck gehalten hat, heißt es:" ... die allgemeinen Gesetze, auf die das Gedankengebäude der theoretischen Physik gegründet ist, erheben den Anspruch, für jedes Naturgeschehen gültig zu sein. Aus ihnen sollte sich auf dem Wege reiner gedanklicher Deduktion die Theorie eines jeden Naturprozesses einschließlich der Lebensvorgänge finden lassen." Und weiter heißt es dann: "Höchste Aufgabe der Physiker ist also das Aufsuchen jener allgemeinsten elementaren Gesetze, aus denen durch reine Deduktion das Weltbild zu gewinnen ist" (Seelig, 1989).
   Die zwei rational begründeten Weltbilder von Bedeutung, das ganzheitliche des Aristoteles und das materialistische der modernen Naturwissenschaft, trennt ein unüberbrückbarer Gegensatz. Für Aristoteles ist die Wirklichkeit als Ganzes aus vier Teilwirklichkeiten mit eigenen Prinzipien aufgebaut. Dagegen sieht die moderne Naturwissenschaft die materielle Wirklichkeit als die ganze Wirklichkeit an; es gibt nur ein Prinzip: das Prinzip für das Materielle, repräsentiert durch die mathematisch faßbaren Gesetze der Physik.
   Es existieren somit zwei Weltbilder zur Interpretation der Wirklichkeit, die sich gegenseitig ausschließen. Nach Aristoteles ist die Wirklichkeit vielschichtig und besteht aus vier Teilwirklichkeiten (Materielles, Vegetatives, Sensitives, Geistiges), das Materielle ist nur eine dieser Teilwirklichkeiten. Die für das Lebendige zuständigen Prinzipien repräsentieren informationsverarbeitende und informationserzeugende Prozesse, die sich auf keinerlei Weise aus den von der Physik aufgefundenen Gesetzen für das Materielle, die von ihr als „Naturgesetze“ bezeichnet werden, ableiten lassen. Der Anspruch, den Einstein in seiner Rede formuliert hat, dass die Gesetze der Physik für jedes Naturgeschehen gültig sein sollen, läßt sich nicht realisieren. Der Philosoph Karl Popper hat diese materialistische Denkungsart als Verheißungsmaterialismus kritisiert (Popper und Eccles, 1982).
   Aus alledem folgt, dass der Versuch des wissenschaftlichen Materialismus, die Welt als eine Einheit zu sehen und alle Seinsschichten mit den Begriffen und Prinzipien einer einzigen Schicht - der materiellen - zu erklären, eine Illusion ist (Bleecken 1992).
 

F. Epilog

   Für den Menschen ist die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung seines Weltbildes mit der Realität nicht ein Problem weltfremder Gedankenspielerei, sondern ein Problem seiner Existenz. War im Mittelalter die christliche Theologie der dominierende Faktor bei der Prägung des Weltbildes, so hat in der Neuzeit die Naturwissenschaft diesen Part übernommen. Die dem materialistischen Weltbild verpflichtete etablierte Naturwissenschaft ist darauf ausgerichtet, Erkenntnisse über den materiellen Teil der Natur zu gewinnen. Diese Erkenntnisse haben den Menschen in die Lage versetzt, die Natur zu beherrschen, für seine Ziele auszubeuten und - wie sich in unseren Tagen immer deutlicher herausstellt - zu zerstören. Auf die Frage, was den Menschen veranlaßt, wie ein Wahnsinniger seine eigene Lebensgrundlage zu zerstören, gibt es nur eine Antwort: Der Mensch hat es verabsäumt, außer der ihm umgebenden Natur vor allem sich selbst zu erkennen und mit Hilfe dieser Selbsterkenntnis sich selbst zu beherrschen. Diese Selbsterkenntnis kann der heutige Mensch nicht mehr allein durch Intuition erreichen, dazu hat sich seine Ratio schon viel zu weit vorgewagt. Diese Selbsterkenntnis kann ihm nur noch die Naturwissenschaft vermitteln; aber gerade diese Naturwissenschaft ist in ihrer heutigen Verfassung dazu außerstande, da sie sich durch starres Festhalten am materialistischen Weltbild selbst blockiert. Um sich aus dieser Selbstblockade zu befreien, muss die Naturwissenschaft anerkennen, dass das Materielle nur ein Teil der Wirklichkeit ist und erst zusammen mit dem Übermateriellen, nämlich dem Organischen, dem Sensitiven und dem Geistigen, die ganze Wirklichkeit ausmacht; mit anderen Worten, sie muss die Wirklichkeit, so wie sie ist, wiederentdecken.
    Der Übergang vom althergebrachten materialistischen Weltbild zu einem ganzheitlichen Weltbild wird wohl die gewaltigste Aufgabe sein, welche die moderne Naturwissenschaft seit ihrer Begründung im 17. Jahrhundert zu bewältigen hat. Um zu dem neuen Weltbild zu gelangen, gibt es wohl keinen besseren Ausgangspunkt als das von Aristoteles begründete Weltbild, in dem die Vorstellung von der dreigeteilten Seele eine zentrale Stellung einnimmt.
 

G. Anmerkungen

Bleecken, S.: Welches sind die existentiellen Grundlagen lebender Systeme? - Ein neues Paradigma. Naturwissenschaften 6/1990.
Bleecken, S.: Die Einheit der Wissenschaft - Abschied von einer Illusion. Merkur, Heft 12/1992.
Popper, K. R., Eccles, J.C.: Das Ich und sein Gehirn. München, 1982.
Seelig, C. (Hsg.): Albert Einstein. Mein Weltbild. Frankfurt/M. 1989. S. 109.

 

H. Ankündigung des Vortrags
„Die Illusion von der Einheit der Wissenschaften –
Vom Weltbild Einsteins zum Weltbild des Aristoteles“
Mainzer Universitätsgespräche WS 1993/94
zum Thema „Einheit der Wissenschaften?“

   Die moderne Naturwissenschaft betrachtet die Welt als Einheit, deren Wesen in der Materialität besteht. Alle Naturerscheinungen einschließlich der Lebensvorgänge sollen danach aus den für die Materie geltenden Prinzipien ableitbar sein. Diesem materialistischen Weltbild steht seit altersher das ganzheitliche Weltbild des Aristoteles entgegen, das den Lebewesen eigene, das Körperlich-Materielle übersteigende und als „Seele“ bezeichnete Prinzipien zuerkennt: Pflanzen haben eine Vitalseele (Entelechie), bei Tieren kommt eine sensitive Seele und beim Menschen dann noch eine Geistseele hinzu.
     Auf Grund des heutigen Kenntnisstandes ist die Wissenschaft in der Lage, die drei Seelenteile des Aristoteles mit drei informationserzeugenden Prozessen (Evolution, niedere bzw. höhere Gehirntätigkeit) in Beziehung zu setzen, wobei sich jeder dieser Prozesse zur Speicherung von Information (genetischer, neuronaler bzw. begrifflicher) spezifischer Träger bedient (DNA-Makromoleküle, Nervenzellen bzw. Sprache/Schrift). Die reale Welt ist insgesamt aus vier Schichten (Materielles, Organisch-Vegetatives, Sensitives, Geistiges) mit eigenen Prinzipien aufgebaut und den vier Schichten entsprechen vier, nicht aufeinander reduzierbare Grundwissenschaften (Physik, Biologie, Psychologie, Geisteswissenschaften). Die These von der Einheit der Wissenschaften, die sich aus der Einheit der Welt ergibt, ist eine Illusion.

* * *

   Dr. Stefan Bleecken (Jahrgang 1926) studierte Physik an der Universität Jena und war bis 1991 Mitarbeiter des Jenaer Zentralinstituts für Mikrobiologie und experimentelle Therapie. Neben seinen Dienstaufgaben arbeitete er 20 Jahre an einem mathematischen Modell der lebenden Bakterienzelle (Escherichia coli). Einige Gedanken zum Vortragsthema findet man in den Veröffentlichungen Welches sind die existentiellen Grundlagen lebender Systeme - Ein neues Paradigma in: Naturwissenschaften Nr. 6/1990 und Die Einheit der Wissenschaft - Abschied von einer Illusion in: Merkur, Stuttgart, Heft 12/1992.

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