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Mit Goethe und Aristoteles   
zurück zur Vernunft

 

  Das Buchprojekt
"Mit Goethe und Aristoteles zurück zur Vernunft


Teil I   Zwei Rückblicke

J. W. v. Goethe
Aristoteles
 
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Alles Gescheite ist schon gedacht worden,
man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken
Goethe: Maximen und Reflexionen

Mein Aufbruch ins Unbekannte

     Als Physiker in einem mikrobiologischen Forschungsinstitut beschäftigt hatte es mir in den letzten beiden Jahrzehnten meiner beruflichen Tätigkeit ein mikroskopisch kleines und aus einer einzigen Zelle bestehendes Lebewesen angetan, welches bis heute als der am besten erforschte und am besten verstandene Vertreter dieser Wesen gilt: das Darmbakterium mit dem Namen Escherichia coli. Ich begann damit, alle mir zugänglichen Daten und Fakten über diesen einfachen Organismus zu sammeln und, da ich schon immer ein gutes Verhältnis zur Mathematik besaß, auf der Grundlage dieser Daten und Fakten ein erstes mathematisches Modell von diesem Lebewesen aufzubauen. Mit Hilfe dieses sehr einfachen Modells konnte man etwas tun, zu dem bisher nur die Physiker auf dem Gebiet der unbelebten Materie in der Lage waren: eine Vorhersage tätigen über das zukünftige Verhalten eines lebenden Systems, welches durch das Modell beschrieben wird.
    Nach Abschluß dieser Arbeiten stellte sich bei mir immer drängender die Frage, welche Bedeutung einem Modell, das das Verhalten eines lebenden Wesens beschreibt, eigentlich zukommt. Offensichtlich beschreibt ein solches Modell etwas, was die lebende Bakterienzelle von einem leblosen Materieklümpchen gleicher Zusammensetzung unterscheidet und was daher als Lebensprinzip für das betreffende Lebewesen bezeichnet werden kann. Ein solches Lebensprinzip kann aufgefunden werden, ohne irgendwelche Begriffe und Gesetze der Physik in Anspruch nehmen zu müssen. Mit dieser Erkenntnis befand ich mich als Wissenschaftler unversehens in einer beispiellosen Situation: Die Existenz eines übermateriellen (d.h. nicht auf die Gesetze der Physik zurückführbaren) Lebensprinzips ist nämlich etwas, was die Physik und mit ihr die ganze etablierte Naturwissenschaft mit äußerster Konsequenz bestreiten. Ein solches Lebensprinzip steht nämlich in einem fundamentalen Gegensatz zu einer allgemein akzeptierten und als gesichert geltenden Lehrmeinung der Wissenschaft.
      Mit der Erkenntnis, dass es ein Lebensprinzip geben muss, das zumindest bei einem sehr einfachen Lebewesen auch mathematisch faßbar ist, war ich an einem Wendepunkt meines Denkens angelangt. Bis dahin lebte ich, wie wohl alle meine Kollegen, in der Gewißheit, dass die moderne Naturwissenschaft der geeignete Weg ist, um die Wahrheit über die Natur zu erfahren. Von da an schien mir der Anspruch dieser Wissenschaft, als einzige Institution der menschlichen Gesellschaft Wahres von Falschem unterscheiden zu können, fragwürdig zu sein und es begannen sich bei mir Zweifel einzustellen, ob das Erkenntnisideal, das dieser Wissenschaft zugrunde liegt, überhaupt richtig ist. Könnte es nicht sein, so fragte ich mich, dass die Erfolge, die die Wissenschaft auf dem bisher eingeschlagenen Weg errungen hat, uns Wissenschaftler blenden und uns alternative Wege zur Erkenntnisgewinnung gar nicht gewahr werden lassen?
    Irgendwie hatte ich damals den Eindruck, dass der Boden unter meinen Füßen zu schwanken begann, konnte aber dieses Etwas, auf dem ich bisher scheinbar sicher gestanden hatte, nicht benennen. Heute weiß ich, dass es das von der modernen Naturwissenschaft propagierte und von mir jahrzehntelang verinnerlichte Weltbild war, welches damals in meinem Denken in Trümmer sank. Ein Weltbild ist eine Art geistiges Territorium, in dem gewohnte Denkpfade es dem Menschen möglich machen, sich in der beängstigenden Vielfalt der Erscheinungen der Welt zurecht zu finden. Der Wunsch, wieder festen Boden zu gewinnen, sowie die Neugier auf Unbekanntes, vielleicht sogar Abenteuerliches, waren geweckt, tastend begab ich mich auf die Suche und es begann für mich eine aufregende Zeitreise in die Vergangenheit des abendländischen Denkens.
    In meinem Bestreben, die Erkenntnis von der Existenz eines von der heutigen Wissenschaft bestrittenen Lebensprinzips in einen gedanklichen Rahmen einordnen zu können, habe ich sehr viel gelesen. Von einem Autor wurde ich an den nächsten verwiesen und oft musste ich Neuland betreten, wenn es sich um Schriften mit naturphilosophischem oder erkenntnistheoretischem Inhalt handelte. Meine Bemühungen, in der Sache Klarheit zu gewinnen, schienen anfangs ins Uferlose zu gehen. Je weiter mich meine Nachforschungen jedoch in die Vergangenheit führten, um so mehr liefen diese wie in einem Brennpunkt zusammen; dieser Brennpunkt waren die naturphilosophischen Schriften des griechischen Philosophen Aristoteles, der vor zweieinhalbtausend Jahren ein ganzheitliches Weltbild von einer bis heute nicht wieder erreichten Reife und Vollendung geschaffen hat. Es erscheint mir bis heute unglaublich: Das einzige ganzheitliche Weltbild, welches diesen Namen verdient, ist in der modernen Welt praktisch in Vergessenheit geraten.
    Zwei Werke des Aristoteles waren es, die mein Interesse in besonderer Weise weckten. Einmal war es die Metaphysik, die Aristoteles selbst als erste Philosophie bezeichnet hat, in der der Verfasser erklärt, welche Aufgaben der Philosophie als Königin der Wissenschaften zukommen, wie sich die Philosophie von den Einzelwissenschaften unterscheidet, was unter ersten Prinzipien und ersten Ursachen zu verstehen ist und welches das Kriterium für Wahrheit ist. Aristoteles lehrte mich, dass der Versuch, die Natur aus einem einzigen Prinzip heraus erklären zu wollen, notwendigerweise die Wahrheit verfehlen muss. - Das zweite Werk, das mich wie ein Magnet anzog, war die aristotelische Seelenlehre (lateinisch: De anima). Aristoteles hat die Seele als Prinzip der belebten Wesen definiert und verständlich gemacht, dass die Seele aus drei Teilen besteht, wobei einfache Lebewesen einschließlich der Pflanzen nur den ersten Teil, die Vitalseele, besitzen, bei Tieren kommt ein zweiter Teil, die Empfindungsseele, und beim Menschen schließlich auch noch der dritte Teil, die Geistseele, hinzu. Die dreiteilige Seele ist nach Aristoteles essentieller Bestandteil eines ganzheitlichen Weltbildes.
     Seit ich Kenntnis von der Existenz eines ganzheitlichen Weltbildes erhielt, hat mich die Frage, was in der modernen Naturwissenschaft falsch gelaufen ist, nicht wieder los gelassen. Als Physiker war ich immer der Meinung gewesen, dass die Naturwissenschaft, so wie ich sie kennengelernt und betrieben habe, auf zwei Säulen ruht, die mit den Schlagworten Empirie und Theorie bezeichnet werden können. Ich war fest davon überzeugt, dass die wissenschaftsinternen Regularien (z. B. Überprüfung einer Theorie durch Experimente) ausreichen, um Unwahres von der Wissenschaft fernzuhalten bzw. aus ihr zu entfernen. Erst allmählich erkannte ich, dass die moderne Naturwissenschaft noch auf einer dritten Säule ruht, dem naturwissenschaftlichen Weltbild, und dass dieses Weltbild ein durch und durch materialistisches ist. Nach diesem zum Dogma erhobenen Weltbild besteht alles in der Natur ausschließlich aus Materie und demzufolge können alle natürlichen Dinge aus den für die Materie gefundenen Gesetzen heraus erklärt werden. Rückblickend ist mir klar geworden, dass es die von der modernen Naturwissenschaft einseitig angewandte analytische Methode ist, die dem Glauben an die Richtigkeit des materialistischen Weltbildes immer neue Nahrung gibt, denn die Zergliederung bzw. Auflösung der in der Natur vorkommenden Dinge führt ausnahmslos auf rein materielle Phänomene.
    Das materialistische Weltbild bestimmt ganz fundamental die Richtung, in der in der Naturwissenschaft nach neuen Erkenntnissen gesucht wird. Ein Wissenschaftler, der das materialistische Weltbild verinnerlicht hat, kann gar nicht auf den Gedanken kommen, nach Prinzipien zu suchen, die über die für die Materie gültigen Prinzipien (auch als Natur gesetze der Physik bezeichnet) hinausgehen. Die Folge ist, dass die Naturwissenschaft für die über das Materielle hinausgehenden Wirklichkeitsbereiche gar keine Begriffe gebildet hat. Das angeblich auf wissenschaftlicher Erkenntnis beruhende materialistische Weltbild wirkt auf die Wissenschaft zurück, indem es die Richtung der Erkenntnissuche bestimmt.
    Das Studium der naturphilosophischen Schriften des Aristoteles hatte mir die Augen geöffnet, für das, was in der modernen Naturwissenschaft falschgelaufen ist. Allgemein gesagt sind es die Irrtümer, die durch Einseitigkeit des Denkens entstehen, vor denen Aristoteles immer wieder sehr nachdrücklich gewarnt hat; die katastrophalen Wirkungen, welche die Mißachtung seiner Warnungen zwei Jahrtausende später in der modernen Naturwissenschaft hervorgerufen hat, konnte er natürlich nicht voraussehen. Ich begann mich für die Frage zu interessieren, ob es denn nicht Wissenschaftler gegeben hat, die nach Entstehung der modernen Naturwissenschaft deren Fehlentwicklung diagnostiziert und davor gewarnt haben. Es gab davon eine ganze Reihe, vor allen unter den Biologen, Physiologen und Philosophen.
     Mir wurde jedoch bald bewußt, dass es Goethe war, der als erster und als bisher einziger die geistigen Grundlagen der modernen Naturwissenschaft in voller Breite einer Kritik unterworfen hat. Zu Goethes Lebzeiten hatte diese Wissenschaft bereits hundert Jahre Fehlentwicklung hinter sich und Goethe als eigenständiger Denker und großer Menschenkenner, der er war, hat mit untrüglicher Sicherheit erkannt, welche menschlichen Schwächen für die verhängnisvolle Entwicklung der Naturwissenschaft verantwortlich sind. Mit der Erkenntnis, dass Goethe nicht nur der prominenteste, sondern auch der am meisten ernstzunehmende Gegner der modernen Naturwissenschaft war, begann meine Beschäftigung mit dem Naturwissenschaftler Goethe, die bis zum heutigen Tag andauert.
    Goethe hat nicht nur die einseitige Methode und das einseitige Weltbild der herrschenden Naturwissenschaft kritisiert und sich besonders in der Farbenlehre mit einem ihrer Gründungsväter, Isaac Newton, auseinandergesetzt, sondern auch dieser Wissenschaft eine neue Wissenschaft von der Natur entgegengesetzt, die er Morphologie nannte. Die Goethesche Naturwissenschaft vermeidet die Einseitigkeiten ihres modernen Widerparts und geht von einem ganzheitlichen Weltbild aus, das mit dem des Aristoteles kompatibel ist. Erst beim Lesen des einleitenden Kapitels der Morphologie wurde mir klar, dass, gemessen an der Goetheschen Naturwissenschaft, die moderne Naturwissenschaft nur dem Namen nach eine Naturwissenschaft, in Wirklichkeit jedoch eine Materiewissenschaft ist. Während die moderne Naturwissenschaft ihre Entstehung der ersten wissenschaftlichen Revolution verdankt, die im siebzehnten Jahrhundert stattgefunden hat, muss Goethe als Vordenker einer zweiten wissenschaftlichen Revolution betrachtet werden, einer Revolution, die uns modernen Menschen noch bevorsteht.
    Mit der Wandlung meines Begriffs, was Naturwissenschaft ist, änderte sich auch grundlegend meine Einstellung zur Philosophie. Ich lernte zu unterscheiden zwischen der Schulphilosophie, die zum großen Teil eine Philosophie des menschlichen Denkens und Bewußtseins ist (und von der ironisch gesagt wird, dass es ebenso viele Philosophien wie Philosophen gibt), und der Naturphilosophie Goethes und Aristoteles'; für Goethe stellt die Natur, von der er sagte, dass sie immer recht habe, ein eindeutiges Kriterium für Wahrheit dar. Es erschien mir offensichtlich, dass eine Bewußtseinsphilosophie, die nicht auf der Naturphilosophie basiert, in der Luft hängt und dem Irrtum Tür und Tor öffnet.
    Im Verlauf des Umdenkprozesses, den ich versucht habe verständlich zu machen, habe ich über den Bedeutungsinhalt vieler Begriffe nachgedacht. Einer von ihnen, der wohl wie kaum ein anderer mißverstanden oder mißbraucht wird, ist der Begriff ganzheitlich . Die moderne Naturwissenschaft führt das Adjektiv ganzheitlich zwar oft im Munde, sie hat aber keinen wirklichen Begriff von dem, was damit ausgedrückt werden soll; die Erklärung von ganzheitlich kann nur mit Hilfe übermaterieller Prinzipien erfolgen, derer Existenz die moderne Naturwissenschaft ja gerade bestreitet.
    Der moderne Mensch mit seinem unvernünftigen Denken und Handeln gleicht einem Verirrten. Um die Vernunft zurückzugewinnen, darf er nicht weiter vorwärts hasten und sämtliche Brücken zu seiner Vergangenheit abbrechen, sondern er muss sich gerade dieser Vergangenheit wieder zuwenden. Daß dieser Weg zurück sehr schwierig sein wird, hat Berthold Brecht erkannt, wenn er sagt: „Kein Vormarsch ist so schwer wie der zurück zur Vernunft“. Dieser Gedanke Brechts gibt meine Erfahrungen beim Schreiben des Buches sehr gut wieder und war mir auch bei der Suche nach einem Buchtitel behilflich.

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