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"Alles Gescheite ist schon gedacht worden,
man muss versuchen, es noch einmal zu denken."
Johann Wolfgang von Goethe
in "Maximen und Reflexionen"
Es ist schon seltsam, wenn man sich am Ende seiner beruflichen Laufbahn, nach Überschreitung des Lebenszenits, gezwungen sieht, in seinem Denken nochmals von vorn anzufangen. Die intellektuelle Odyssee von einem alten zu einem neuen Denken, die mein Leben weithin beeinflußte, erfolgte in drei Etappen, die mit den Stichworten Zweifel, Ahnung und Gewißheit umrissen werden können. Am Anfang stand der Zweifel. Bei einer Bewertung von Ergebnissen von Forschungen, die ich als gelernter Physiker an einem mikrobiologischen Institut in Jena durchführte, stellten sich massive Zweifel ein an dem Wirklichkeitsbezug der modernen Naturwissenschaft und an dem von dieser Wissenschaft versprochenen unablässigen Fortschritt. Eingedenk einer 1990 in einem Interview geäußerten Ansicht des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt, dass die Welt nicht durch Politik und Kunst, sondern durch Naturwissenschaft verändert wird, schlich sich bei mir der Verdacht ein, dass zwischen der Wirklichkeitsfremdheit der modernen Wissenschaft und den unübersehbaren existentiellen Bedrohungen, denen die Menschheit heute gegenübersteht, ein innerer Zusammenhang besteht.
Der Umbruch in meinem Denken erfolgte zu einer Zeit, als auf politischem Gebiet ein Umbruch in historischem Ausmaß erfolgte. Etwas bis dahin für unmöglich Gehaltenes war Realität geworden: der Staat DDR, in dem ich lebte, und mit ihm das politische Weltsystem, dem dieser Staat angehörte, waren in historisch kürzester Zeit zusammengebrochen - und zwar ohne Blutvergießen. Warum, so sagte ich mir, sollte nicht auch auf einem anderen Gebiet etwas vergleichbar Unwahrscheinliches möglich sein: eine wissenschaftliche Wende, die dann eine Zeitenwende in der eigentlichen Bedeutung des Wortes zur Folge haben würde: die Wende eines ganzen Zeitalters. Natürlich hatte ich als Objekt dieser Wende das "wissenschaftliche" oder "moderne" Zeitalter im Sinn, in dem wir heute leben. Mit meinem Denken befand ich mich damals in einer absoluten Ausnahmesituation, ich hatte manchmal das Gefühl, keinen Boden mehr unter den Füßen zu haben.
Daß ich wieder Grund unter die Füße bekam, verdanke ich den wohl tiefgründigsten Denkern der abendländischen Geistesgeschichte, Goethe und Aristoteles. Beim Studium der Naturphilosophie dieser beiden Männer erhärtete sich mein Verdacht, dass mit der modernen Naturwisssenschaft etwas nicht stimmt und diese Wissenschaft für die Existenzkrise des modernen Menschen verantwortlich ist; der Verdacht wurde schließlich Gewißheit. Mir wurde bewußt, dass diese Wissenschaft in den dreihundert Jahren ihrer Forschungstätigkeit ein menschenverachtendes Menschenbild hervorgebracht hat: der Mensch als seelenloses, nur aus Materie bestehendes Ding. Es wurde mir klar, dass die moderne Naturwissenschaft ein Blendwerk ist und es eine ganz andere Wissenschaft von der Natur geben muss: eine Wissenschaft, die den Namen "Naturwissenschaft" zu Recht trägt, eine Wissenschaft, die dem Menschen seine Seele wieder zuerkennt, die ihn lehrt, im Einklang mit der Natur zu leben, und ihn davon zu überzeugen vermag, dass er seinen bereits begonnenen globalen Krieg gegen die Natur beenden muss, da er diesen Krieg gegen sich selbst führt und damit im höchsten Grade unvernünftig handelt. Ein dritter Weltweise, der altchinesische Philosoph Konfuzius, verhalf mir zu einer weiteren Einsicht: der Übergang von der "modernen" zu einer "ganzheitlichen" Naturwissenschaft ist erst möglich, wenn es gelingt, "die Worte in Ordnung zu bringen", denn wenn die Worte nicht in Ordnung sind, "dann sind auch die Taten nicht in Ordnung."
Stefan Bleecken, im Juli 2007
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