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J. W. v. Goethe
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Zur Entstehungsgeschichte der Goetheschen Wissenschaft von der Farbe

1. Einleitung
2. Goethes frühes Interesse für Farbphänomene
3. Newtons Farbentheorie
4. Goethes Aperçu der prismatischen Farbenerscheinung
5. Goethes Versuche mit prismatischen Farben
6. Goethes Versuche mit Pigmentfarben
7. Goethes Entdeckung der physiologischen Farben
8. Schillers Kategorienprobe
9. Mit der Farbenlehre begründete Goethe die Wissenschaft von den Farben
10. Unterteilung in „fixe“ und „apparente“ physiologische Farben
11. Die Entscheidung im Farbenstreit zwischen Goethe und Newton
Zu den Experimenten und den Abbildungen
siehe  auch die Seite
Abb. Farbenlehre
im "Album"


1. Einleitung

 
  "Auf alles, was ich als Poet geleistet habe, bilde ich mir gar nichts ein. Es haben treffliche Dichter mit mir gelebt, es lebten noch trefflichere vor mir, und es werden ihrer nach mir sein. Daß ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir etwas zugute, und ich habe daher ein Bewußtsein der Superiorität über viele."
      Die von Goethe zu seinem Vertrauten Eckermann gesprochenen stolzen Worte über seine Einzigartigkeit in der "schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre" lassen keinen Zweifel: Goethe hat seine Farbenlehre als Wissenschaft und, da für ihn der Mensch mit zur Natur gehört, als Naturwissenschaft betrachtet. Einen der Gründe, warum seiner Farbenlehre die Anerkennung versagt geblieben und er als Farbenlehrer nicht anerkannt worden ist, hat Goethe selbst genannt. Drei Monate vor seinem Tod sagte er zu Eckermann:
 
„Die Farbenlehre ist sehr schwer zu überliefern, denn sie will, wie Sie wissen, nicht bloß gelesen und studiert, sondern sie will getan sein.“

   Wer die Goetheschen Farbenlehre nur liest und studiert, ohne sie „getan“ zu haben, kann sich im wortwörtlichem Sinn „kein Bild machen“ von dem, was gemeint ist, kann gar nicht erfassen, um was es eigentlich geht. Alle Kritiker der Farbenlehre scheinen diesen Umstand ignoriert zu haben. So kommt es, dass noch heute die Meinung vorherrscht, dass Goethes Farbenlehre wissenschaftlich unhaltbar und nichts weiter als das Phantasieprodukt eines berühmten Dichters sei. Das Goethe-Nationalmuseum in Weimar beispielsweise offeriert seinen Besuchern, die Farbenlehre sei Goethes „lebenslanger Spleen“ gewesen.
   Wer die Entstehungsgeschichte von Goethes Farbenlehre in faßlicher Form darstellen will, muss sich Beschränkungen auferlegen. Immerhin handelt es sich um Goethes umfangreichstes Werk und alle Facetten seiner Entstehung darstellen zu wollen, würde ein ganzes Buch erfordern. Wir werden daher im Wesentlichen nur den roten Faden verfolgen, der sich von Goethes frühem Interesse für Farbphänomene hinzieht bis zu Goethes Begründung einer Wissenschaft von der „Farbe“ in seinem 1810 erschienenen Werk Zur Farbenlehre. Um den roten Faden dem Leser erkennbar zu machen, wurden aus der verwirrenden Vielfalt der von Goethe angeführten Beispiele von Farbphänomenen einige wenige Schlüsselexperimente herausgefiltert. Der Leser ist aufgefordert, anhand der beigefügten farbigen Abbildungen diese Experimente im Selbstversuch sorgfältig nachzuvollziehen. Es handelt sich um die Abbildungen 1, 3, 4, 5, 9, 10 und 11. Dazu ist nichts weiter notwendig, als die Farbentüchtigkeit des Betrachters und für die Versuche 3, 4 und 5 ein Prisma (Goethe bevorzugte ein gleichseitiges Prisma mit einem brechenden Winkel von 60 Grad).

 
2. Goethes frühes Interesse für Farbphänomene
Abbildung Goethe

   Schon als Kind hat Goethe sich der Malerei gewidmet und reges Interesse für Farbphänomene gezeigt. In dem Aufsatz Konfession des Verfassers aus dem Jahre 1810, in dem er rückblickend die Anfänge seiner Farbenlehre betrachtet, schildert Goethe seine frühe Begegnung mit dem Phänomen der farbigen Schatten:
 
   „Beim Schirokkohimmel, bei den purpurnen Sonnenuntergängen waren die schönsten meergrünen Schatten zu sehen, denen ich um so mehr Aufmerksamkeit schenkte, als ich dem schon in der ersten Jugend bei früherem Studieren, wenn der Tag gegen das angezündete Licht heranwuchs, diesem Phänomen meine Bewunderung nicht entziehen konnte. Doch wurden alle diese Beobachtungen nur gelegentlich angestellt, durch soviel anderes mannigfaltiges Interesse zerstreut und verdrängt.“

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Abb. 1a
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Abb. 1b
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Abb. 1c
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      Zwei Jahre nach seiner Ankunft in Weimar unternahm Goethe seine erste Harzreise. Am 10. Dezember 1777 bestieg er in Begleitung eines Försters den schneebedeckten Brocken, es war die erste dokumentierte Brockenbesteigung im Winter überhaupt. Seine Beobachtungen während des Abstiegs, als die Dämmerung schon langsam hereinbrach, schildert Goethe folgendermaßen:
 
  „Auf einer Harzreise im Winter stieg ich gegen Abend vom Brocken herunter; die weiten Flächen auf- und abwärts waren beschneit, die Heide von Schnee bedeckt, alle zerstreut stehenden Bäume und vorragenden Klippen, auch alle Baum- und Felsenmassen völlig bereift; die Sonne senkte sich eben gegen die Oderteiche hinunter.
Waren den Tag über dem gelblichen Ton des Schnees schon leise violette Schatten bemerklich gewesen, so musste man sie nun für hochblau ansprechen, als ein gesteigertes Gelb von den beleuchteten Teilen widerschien.
   Als aber die Sonne sich endlich ihrem Niedergang näherte, und ihr durch die stärkeren Dünste höchst gemäßigter Strahl die ganze mich umgebende Welt mit der schönsten Purpurfarbe überzog, da verwandelte sich die Schattenfarbe in ein Grün, das nach seiner Klarheit einem Meergrün, nach seiner Schönheit einem Smaragdgrün verglichen werden konnte. Die Erscheinung ward immer lebhafter, man glaubte sich in einer Feenwelt zu befinden.“
    Das geschilderte Phänomen muss Goethe sehr beeindruckt haben; seine Beobachtungen beim Brockenabstieg wurden ebenfalls zunächst verdrängt und erst dreißig Jahre später im Abschnitt „Farbige Schatten“ seiner „Farbenlehre" zu Papier gebracht. Wie in den Abbildungen 1 a – c gezeigt wird, lassen sich die „farbigen Schatten“ mit Hilfe der von Goethe erdachten „Streifentafeln“ auf einfache Weise nachempfinden (die Farbtüchtigkeit des Betrachters vorausgesetzt).
 
3. Newtons Farbentheorie

    Goethes Begegnungen mit Malern und eigene ernsthafte Versuche in der Malerei während seiner ersten Italienreise (1786 - 1788) hatten in ihm erstmals den Wunsch aufkommen lassen, sich ernsthaft mit den Farben zu beschäftigen und deren Gesetze und Regeln zu ergründen. Bereits in Italien war ihm klar geworden, „dass man den Farben als physischen Erscheinungen erst von der Seite der Natur beikommen müsse, wenn man in Absicht auf Kunst etwas über sie gewinnen wolle. Wie alle Welt war ich überzeugt, dass die sämtlichen Farben im Licht enthalten seien; nie war es mir anders gesagt worden“ (Konfession des Verfassers). Da die gültige Farbentheorie auf dem Newtonschen Prismenversuch basierte, entschloß sich Goethe nach seiner Rückkehr nach Weimar selbst mit dem Prisma, dem „Instrument, auf dem beinahe allein die bisher angenommene Farbentheorie beruht“, zu experimentieren.


Abbildung Newton





Abb. 2a
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     Newton war nicht nur der Begründer der klassischen Mechanik, sondern hat auch auf dem Gebiet der Optik Bahnbrechendes geleistet. Im Rahmen seiner Bemühungen, die Bildschärfe von Linsenfernrohren zu verbessern und die Farberscheinungen an den Rändern der Bilder, die heute als „chromatische Aberration“ bezeichnet werden, zum Verschwinden zu bringen, führte Newton seinen berühmten „Prismenversuch“ durch: er schickte in einem Raum, der als camera obscura eingerichtet war, einen dünnen Strahl von Sonnenlicht durch ein Glasprisma und stellte fest, dass sich der weiße Lichtstrahl in ein Spektrum verschiedener Farben, von Rot über Gelb, Grün, Blau bis zum Violett auffächern läßt; Rot wird durch das Prisma am geringsten, Violett am stärksten gebrochen. Umgekehrt ließen sich die aufgefächerten farbigen Strahlen im Brennpunkt einer Sammellinse wieder zu weißem Licht zusammenführen.
    Das Ergebnis seiner optischen Untersuchungen veröffentlichte Newton in einem dreiteiligen Werk, dem er den Titel „Opticks: or a treatise of of the Reflections, Refractions, Inflections and Colours of Light “ gab. Bereits der Titel des Werks gibt zu erkennen, dass nicht nur die Spiegelung, Brechung und Beugung des Lichts, sondern auch die Farben des Lichts behandelt werden. Den Anspruch, dass seine Optik gleichzeitig auch als eine Farbenlehre gelten soll, hat Newton in seinem Werk ausdrücklich bekräftigt.
    Das erste Buch von Newtons Opticks enthält die Theoreme: „Licht verschiedener Farbe besitzt auch verschiedene Brechbarkeit“, „Sonnenlicht besteht aus Strahlen verschiedener Brechbarkeit“ und „Weiß und alle Grau zwischen Weiß und Schwarz können aus Farben zusammengesetzt werden. Das Weiß des Sonnenlichts kann aus geeignet gemischten Primär-Farben hergestellt werden.“ Im zweiten Buch seiner Opticks zieht Newton dann die folgenden Schlüsse: „Weiß ist eine Mischung aus allen Farben“, „Zwischen Farbe und Brechbarkeit besteht ein konstantes Verhältnis“ und als Resümee seiner Versuche: „Die Lehre von den Farben wird eine ebenso sichere mathematische Theorie, wie irgend ein anderer Teil der Optik, insoweit nämlich die Farben von der Natur des Lichts abhängen und nicht durch die Einbildungskraft oder etwa einen Schlag oder Druck auf das Auge hervorgebracht oder geändert werden.“ Mit dem Prismenspektrum als Grundlage hat es Newton erstmals unternommen, die Ordnung der Farben durch einen Farbenkreis wiederzugeben. Wie in Abb. 2a schematisch dargestellt ist, muss dabei das Rot- und das Violett-Ende des Spektrums zu einem Kreis zusammenbogen werden. An der Nahtstelle tritt dann eine Unstetigkeit auf, da die Farbe mit der größten Lichtbrechung unmittelbar an die Farbe mit der geringsten Lichtbrechung grenzt.
     Mit den folgenden Worten relativiert Newton selbst die sich auf „Farbe“ beziehenden Teile seiner Optiks: „Und wenn ich einmal von farbigen oder gefärbten Lichtstrahlen spreche, so ist dies nicht im wissenschaftlichen oder strengen Sinn zu verstehen, sondern umgangssprachlich gemeint. Denn streng genommen sind die Strahlen nicht gefärbt. In ihnen liegt lediglich eine Macht oder Disposition, die Empfindung dieser oder jener Farbe zu erregen.“ Das heißt aber: Wenn Newton von „Farbe“ spricht, ist nach heutiger wissenschaftlicher Terminologie ein Farbreiz, keineswegs aber eine Farbempfindung gemeint. Das bei Newton wenigstens ansatzweise angelegte Auseinanderhalten von „Farbreiz“ und „Farbempfindung“ ist in der Folgezeit wieder verlorengegangen; die heutige Wissenschaft spricht unbekümmert von Farbe, ohne dazuzusagen, ob eine Farbreiz oder eine Farbempfindung gemeint ist.
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4. Goethes Aperçu der prismatischen Farbenerscheinung

   Goethe versuchte zunächst, wie es Newton getan hatte, mit der durch Lichtbrechung hervorgerufenen prismatischen Farbenerscheinung „den Farben beizukommen“. Anfang des Jahres 1790 führte er einen Versuch durch, der für ihn weitreichende Folgen haben sollte und den er in seinem Tagebuch als „Aperçu der prismatischen Farbenerscheinung“ bezeichnete. Durch ein ausgeliehenes Prisma schaute er die Wand seines neu geweißten Zimmers an. Seine Erwartungen und Empfindungen schildert er in der „Konfession des Verfassers“ wie folgt:

 
„Ich erwartete, als ich das Prisma vor die Augen nahm, eingedenk der Newtonschen Theorie, die ganze weiße Wand nach verschiedenen Stufen gefärbt, das von da ins Auge zurückkehrende Licht in so viel farbige Lichter zersplittert zu sehen. Aber wie verwundert war ich, als die durchs Prisma angeschaute Wand nach wie vor weiß blieb, dass nur da, wo ein Dunkles dranstieß, sich eine mehr oder weniger entschiedenen Farbe zeigte, dass zuletzt die Fensterstäbe am allerlebhaftesten farbig erschienen, indessen am lichtgrauen Himmel draußen keine Spur von Färbung zu sehen war. Es bedurfte keiner langen Überlegung, so erkannte ich, dass eine Grenze notwendig sei, um Farben hervorzubringen, und ich sprach wie durch einen Instinkt sogleich vor mich laut aus, dass die Newtonsche Lehre falsch sei. [...] Ich vereinfachte nunmehr die mir in Zimmern und im Freien durchs Prisma vorkommenden zufälligen Phänomene und erhob sie, indem ich mich bloß schwarzer und weißer Tafeln bediente, zu bequemen Versuchen.“
Abb. 3a
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Abb. 3b
zur Abb. 3b

Abb. 4a
zur Abb. 4a

Abb. 4b
zur Abb. 4b

Abb. 5a
zur Abb. 5a

Abb. 5b
zur Abb. 5b
5. Goethes Versuche mit prismatischen Farben

   Das Ergebnis seiner prismatischen Versuche mit weißen und schwarzen Tafeln veröffentlichte Goethe 1791/92 in den Beiträgen zur Optik, 1. und 2. Teil. Er entdeckte, dass an den Grenzen zwischen hellen und dunklen Flächen zwei Arten farbiger Streifen auftreten, die heute als Kantenspektren bezeichnet werden. Betrachtet man mit einem Prisma, dessen brechender Winkel nach unter zeigt, die Grenze zwischen schwarzer Fläche oben und weißer Fläche unten (Abb. 3a, links), so sieht man einen roten und gelben Farbstreifen (Abb. 3b, links). Im umgekehrten Fall, d. h. weiße Fläche oben, schwarze unten, erscheint an Stelle des roten und gelben Streifens ein blauer und violetter Streifen ( Abb. 3b, rechts).



    Wird ein weißer Streifen auf einen schwarzen Untergrund gebracht und ist der weiße Streifen breit genug (Abb. 4a, oben), so wird beim Blick durch das Prisma an oberen Grenze des Streifens ein rot-gelber Farbstreifen und, getrennt durch einen weißen Zwischenraum, an der unteren Grenze ein blauer-violetter Farbstreifen erscheinen (Abb. 4b, oben).



      Wird die Streifenbreite verringert (Abb. 5a, oben), verringert sich auch der weiße Zwischenraum, bis sich der obere gelbe und der untere blaue Farbstreifen in der Mitte überlappen und zwischen Gelb und Blau ein Grün erscheint. Die Farbenfolge von oben nach unten ist dann Rot, Gelb, Grün, Blau und Violett (Abb. 5b, oben), d. h. man erhält die Farbenfolge des Newtonschen Spektrums.


     Wiederholt man das Verfahren mit einem schwarzen Streifen auf weißem Grund (Abb. 4a, unten) und verringert die Streifenbreite (Abb. 5a, unten), so erhält man beim Blick durch das Prisma eine ähnliche farbige Erscheinung, nur ist Ordnung der Farben gewissermaßen umgekehrt. In dem umgekehrten Spektrum sehen wir zuunterst Gelb, dann folgt hinaufwärts Rot, dann eine Farbe, die durch Mischung von Rot und Violett entsteht und die Goethe Pfirsichblüt und später Purpur nannte, und schließlich Violett und Blau (Abb.5b, unten).



   Mit seinen Prismenversuchen verfolgte Goethe einen ganz anderen Ansatz als Newton. Während Newton einen ausgeblendeten Sonnenstrahl durch ein Prisma leitete und die an der gegenüberliegenden Wand auftretenden Farben betrachtete, blickte Goethe in einem normal erhellten Raum selbst durch das Prisma und betrachtete die Grenzen von Hell und Dunkel. Die Konsequenzen dieses anderen Ansatzes sind erheblich. Mit geeigneten Anordnungen von weißen und schwarzen Flächen erhielt Goethe nicht nur das bekannte Newtonsche Spektrum, sondern auch ein umgekehrtes Spektrum, welche die Farbe Purpur einbezieht, die im Newtonschen Spektrum nicht vorkommt. Das Newtonsche und das umgekehrte Spektrum überlappen sich an beiden Enden mit den Farben Gelb/ Rot bzw. Violett/Blau und fügen sich daher wie von selbst zu einer zyklischen Farbenfolge und zu einem Farbenkreis zusammen. Dieser Farbenkreis beschreibt eine natürliche Ordnung der Farben, während die einseitige Verfahrensweise Newtons, der sein Spektrum gewaltsam zu einem Kreis zusammengebogen hat (vergl. Abb. 2a), eine unnatürliche Farbenordnung ergibt.
















Abb. 6 a
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Abb. 6b
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Abb. 7
zur Abbildung 7






Abb. 8
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6. Goethes Versuche mit Pigmentfarben


    Außer den zwei veröffentlichten Teilen der Beiträge zur Optik hat Goethe im Jahre 1793 zwei weitere Aufsätze verfaßt, die als Teil 3 und 4 der Beiträge geplant waren, die aber von ihm nicht veröffentlicht wurden. In dem Aufsatz Versuch, die Elemente der Farbenlehre zu entdecken experimentiert Goethe nicht mehr mit prismatischen Farben, sondern mit Farben, die Körpern und Pigmenten eigen sind. Sein Ziel ist es, die Gesetzmäßigkeiten von Farbmischungen zu erkennen, um auch von dieser Seite zu einem Ordnungsschema für die Farben zu gelangen. Die Basis für ein solches Schema sind für ihn die Farben Gelb und Blau, die er als Mutterfarben bezeichnet. Er schreibt: „Wir kennen nur zwei ganz reine Farben, welche, ohne einen Nebeneindruck zu geben, ohne an etwas anderes zu erinnern, von uns wahrgenommen werden. Es sind Gelb und Blau ... Mit einander vermischt, befriedigen sie den Blick. Diese gemischte Farbe nennen wir Grün.“
    Um den farblichen Eindruck der Mutterfarben Gelb und Blau zu steigern, stellt Goethe Verdichtungsversuche dieser zwei Farben an und realisiert dies durch mehrmaliges Auftragen von aufgelöstem Gummigutta (gelbfärbendes Harz des in Ostindien vorkommenden Gummiguttabaumes) bzw. von feingeriebenem und diluierten Berliner Blau auf Papier. Noch eindrucksvoller läßt sich die Steigerung von Gelb und Blau mit Hilfe von Stufengefäßen demonstrieren (Abb. 6a und 6b). Goethe kommentiert diese Versuche wie folgt: „Auf obgemeldete Weise verstärken wir die Farbe nicht lange, so finden wir, dass sie sich noch auf eine andere Art verändert, die wir nicht bloß durch dunkler ausdrücken können. Das Blaue nämlich sowohl als das Gelbe nehmen einen gewissen Schein an, der, ohne dass die Farbe heller werde als vorher, sie lebhafter macht; ja, man möchte beinah' sagen, sie ist wirksamer und doch dunkler. Wir nennen diesen Effekt Rot.“ Goethe schreibt dann weiter: „Rot nehmen wir vorerst als keine eigene Farbe an, sondern kennen es als eine Eigenschaft, welche dem Gelben und Blauen zukommen kann“, und: „Man nehme nun das Gelbrote und das Blaurote, beides auf seiner höchsten Stufe und Reinheit, man vermische beide, so wird eine Farbe entstehen, welche alle anderen an Pracht und zugleich an Lieblichkeit übertrifft. Es ist der Purpur, der so viele Nuancen haben kann, als es Übergänge vom Gelbroten zum Blauroten gibt. Die Vermischung geschieht am reinsten und vollkommensten bei prismatischen Versuchen.“
In Abb. 7 ist der von Goethe geschilderte Aufbau eines Farbenordnungssystems mit den beiden Mutterfarben Gelb und Blau als Fundament anschaulich dargestellt.
Goethe fährt dann weiter fort: „Wir kennen also nur folgende Farben und Verbindungen

Purpur

Gelbrot             Blaurot

Gelb                 Blau

Grün

und stellen dieses Schema in einem Farbenkreise hierneben vor.“ Es ist hier das erste Mal, dass Goethe den nach ihm benannten Farbenkreis vorstellt. Anstelle der Farbenbezeichnung Gelbrot und Blaurot hat Goethe später die Bezeichnungen Orange bzw. Violett benutzt. Das Blatt mit dem von Goethe gezeichneten Farbenkreis ist verlorengegangen. In Abb. 8 ist der sechsteilige Farbenkreis entsprechend der Angaben Goethes nachgebildet.
Aus Mischexperimenten mit Farbpigmenten zieht Goethe den Schluß, dass alle Farben des Farbenkreises, in einer gewissen Proportion vermischt, die Unfarbe Grau, jedoch niemals Weiß hervorbringen; gleiches gilt auch für die Vermischung zweier Farben, die im Farbenkreis diametral gegenüberliegen, nämlich Purpur und Grün, Blaurot und Gelb sowie Gelbrot und Blau. Für Goethe ist damit klar, dass die Behauptung Newtons, das reine Weiß als auch das Grau könne aus allen Farben zusammengesetzt werden, falsch ist und er kommentiert diese Behauptung mit den Worten: „Das letzte leugnet niemand. Das erste ist unmöglich.“ Goethe äußert sich an dieser Stelle zum ersten Male unmißverständlich gegen Newton.














Abb. 9

zur Abbildung 9 hier klicken

7. Goethes Entdeckung der physiologischen Farben

    Der zweite Aufsatz, der als Teil der Beiträge zur Optik geplant war, von Goethe aber nicht veröffentlicht wurde, ist betitelt „Von den farbigen Schatten“. In dieser Schrift werden die Bedingungen, unter denen farbige Schatten auftreten können, eingehend untersucht. Von entscheidender Bedeutung für Goethes weiteren Weg zu einer Wissenschaft von der Farbe ist seine aus vielen Versuchen gewonnene und hier zum ersten Mal ausgesprochene Erkenntnis: „Die Farbe der Schatten ist ursprünglich, nicht abgeleitet, sie wird unmittelbar nach einem unwandelbaren Naturgesetze hervorgebracht. Hier bedarf es keiner Reflexion, noch irgendeiner andern Einwirkung eines etwa schon zu dieser oder jener Farbe determinierten Körpers.“
     Im August 1793 sendet Goethe den Aufsatz „Von den farbigen Schatten“ an den Göttinger Physiker Georg Christoph Lichtenberg und bittet um dessen „Teilnehmung und Belehrung“. Anfang Oktober d. J. bedankt sich Lichtenberg und weist Goethe auf die von dem französischen Naturforscher Buffon beobachteten couleurs accidentelles hin, die man „in den Augen bemerkt“ und die eine gewisse Ähnlichkeit mit den farbigen Schatten aufweisen. Zwei Wochen später antwortet Goethe: „Wie nah diese Versuche (mit den farbigen Schatten) mit den sogenannten couleurs accidentelles verwandt sind, ist Ew. Wohlgeb. nicht entgangen. Auch hier läßt sich eine Reihe schöner Versuche aufstellen, die mit jenen vollkommen Schritt halten; hier ist also wohl nichts Zufälliges, wohl aber eine Übereinstimmung verschiedener Erfahrungen.“
    Diese Briefstelle markiert einen entscheidenden Durchbruch Goethes zur Erkenntnis über die Natur der Farben. Goethe hat erkannt, dass sowohl die „farbigen Schatten“ als auch die „couleurs accidentelles“, die bis dahin als zufällig, als Täuschungen oder Gebrechen des Auges angesehen wurden, „nach einem unwandelbaren Naturgesetze hervorgebracht“ werden, sie stellen ein und dasselbe Phänomen dar und unterscheiden sich nur durch die Bedingungen unter denen das Phänomen auftritt. Für dieses Phänomen („Übereinstimmung verschiedener Erfahrungen“) verwendet Goethe dann den Terminus „physiologische Farben“ (erstmals in einem Briefkonzept Anfang 1794) oder auch „Farben, die dem Auge angehören“ (in der Farbenlehre von 1810).
    Die von Buffon beobachteten couleurs accidentelles werden heute als farbige Nachbilder bezeichnet. Ein Ergebnisvergleich des in Abb. 9 dargestellten Experiments mit farbigen Nachbildern und des in Abb. 1 dargestellten Versuchs mit „farbigen Schatten“ zeigt überzeugend, dass die Farben der „farbigen Schatten“ mit denen der entsprechenden farbigen Nachbilder übereinstimmen und es sich daher nicht um Augentäuschungen, Einbildungen oder zufällige Erscheinungen handeln kann (wie heute noch von den Vertretern der modernen Naturwissenschaft behauptet wird).
      Die Entdeckung der physiologischen Farben als ein real existierendes und naturgesetzliches Phänomen führte Goethe zu der Erkenntnis, dass für das Phänomen „Farbe“ nicht die Physik, sondern eine ganz andere Wissenschaft mit ganz anderen Gesetzen zuständig ist, die er später „Farbenlehre“ nannte; diese Erkenntnis war der Grund, warum Goethe die beiden bereits verfaßten Teile 3 und 4 der Beiträge zurückhielt. Die Entdeckung der physiologischen Farben war aber nur die eine Vorbedingung für die Begründung einer Wissenschaft von der Farbe, die andere Vorbedingung war die Einordnung der außerordentlich vielfältigen Farbenphänomene in Kategorien.

 

8. Schillers Kategorienprobe

Abb. Freundschaftsbund
Abb. Freundschaftsbund Goethe -  Schiller
   Seit seinem „Aperçu der prismatischen Farbenerscheinung“ im Jahre 1790 hatte sich Goethe fortwährend Notizen gemacht über die von ihm angestellten Versuche und die dabei gemachten Erfahrungen; diese Notizen enthielten bunt durcheinander sowohl richtige Erkenntnisse, als auch Irrtümer. Anfang Januar 1798 schreibt Goethe an Schiller nach Jena:
   „Indessen habe ich in diesen farb- und freudlosen Stunden die Farbenlehre wieder vorgenommen, und, um das was ich bisher getan recht zu übersehen, in meinen Papieren Ordnung gemacht“, und weiter: „Nun habe ich diese Volumina auseinander getrennt, Papiersäcke machen lassen, diese nach einem gewissen Schema rubricirt (eingeordnet) und alles hineingesteckt ...“ In einem weiteren Brief schreibt er: „Ich schematisire unabläßlich, gehe meine Collectaneen durch und suche, aus dem Wust von unnötigem und falschem, die Phänomene in ihrer sichersten Bestimmung und die reinsten Resultate heraus. Wie froh will ich sein wenn der ganze Wust verbrannt ist und das brauchbare davon auf wenig Blättern steht. Die Arbeit war unsäglich, die doch nun schon acht Jahre dauert. [ ... ] Stehn Sie mir bei weiterm Fortschreiten bei.“ Goethe bittet hier den philosophischen Sachverstand Schillers um Mithilfe, um Ordnung in die Behandlung der unüberschaubar gewordenen Vielfalt von Farbphänomenen zu bringen.
Am 14. Februar 1798 schreibt Goethe an Schiller: „Ich übersende, was Sie wohl nicht erwarten, die Phänomene und hypothetischen Enunziationen über die Farbenlehre, nach den Kategorien aufgestellt.“
    Am 16. Februar antwortet Schiller: „Wenn die Kategorienprobe überhaupt stattfinden und von Nutzen sein soll, so muss sie, deucht mir, mit dem Allgemeinsten und Einfachsten der Farbenlehre angestellt werden, ehe von den besonderen Bestimmungen die Rede ist, denn diese können nur Verwirrung erregen. Ferner scheint mir daraus eine Verwirrung entsprungen zu sein, dass sie nicht immer bei dem nämlichen Subjekt der Frage geblieben, sondern in der einen Kategorie das Licht, in der anderen die Farbe vor Augen hatten. [...] Bei dem Moment der Qualität müßte, deucht mir, die wichtige Frage beantwortet werden, ob nicht die Q u a l i t ä t der Farbe unabhängig vom Licht existiert. [...] Sollte es nicht vielleicht zu fruchtbaren Ansichten führen, wenn die Farbe in dreifacher Beziehung betrachtet würde,
      1) in Beziehung auf das Licht und die Finsternis,
      2) in Beziehung auf das Auge,
      3) in Beziehung auf die Körper, an denen sie erscheint.
   Ihre Einteilung der Farben hat mir jetzt noch etwas nicht völlig Bestimmtes, daher ich nicht gewiß weiß, ob ich bei dem, was Sie z. B. p h y s i s c h e Farben nennen, gerade das rechte denke. So wie es jetzt dasteht, denke ich mir darunter prismatische Farben. Unter chemischen Farben verstehe ich Pigmente.“
    In seinem Antwortbrief vom nächsten Tag geht Goethe auf die von Schiller vorgeschlagene Dreiteilung der Farbenphänomene ein und verwendet erstmals die Einteilung in drei Kategorien, in die sich all die verschiedenen Erscheinungsweisen der Farben einordnen lassen. Diese Einteilung findet sich dann 1810 in seiner Farbenlehre wieder. Er schreibt:
„Auch ist meine Einteilung diejenige, die Sie verlangen:
1) in Beziehung aufs Auge
                                 p h y s i o l o g i s c h e.
2) in Beziehung auf Licht und Finsternis
                                 p h y s i s c h e,
welche alle ohne Mäßigung und Grenze nicht bestehen und von denen die prismatischen nur eine Unterabteilung sind.
3) C h e m i s c h e, die uns an Körpern erscheinen.“

Abb 10a

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Abb 10b
zur Abbildung 10 b


Abb. 11a
zur Abb. 11a
Abb. 11b
zur Abbildung 11b
Abb. 11c
(usw. bis f)
zu den  Abbildungen 11c - f

Abb. 12
zur Abbildung 12

Abb. 13
zur Abbildung 13
9. Mit der Farbenlehre begründete Goethe die Wissenschaft von den Farben

     Mit der Entdeckung der physiologischen Farben und der Einteilung der Farbenphänomene in physiologische, physische und chemische Farben war der Weg frei für das im Jahre 1810 zur Ostermesse erschienene Werk Zur Farbenlehre, welches Goethe für sein wichtigstes Werk gehalten hat und mit welchem er „Epoche in der Welt“ machen wollte.

Abbildung Innentitel zur Farbenlehre
Innentitel der Originalausgabe "Zur Farbenlehre"


Goethes Werk Zur Farbenlehre besteht aus drei Teilen:

I. Entwurf einer Farbenlehre. Didaktischer Teil.
Darin die Abteilungen: Physiologische Farben ($$ 1 - 135)
Physische Farben
Chemische Farben
Allgemeine Ansichten nach innen
Nachbarliche Verhältnisse
Sinnlich-sittliche Wirkung der Farben

II. Enthüllung der Theorie Newtons

III. Historischer Teil. Materialien zur Geschichte der Farbenlehre
Darin enthalten der Aufsatz: Konfession des Verfassers


   Der erste der drei Teile der Farbenlehre, als „Didaktischer Teil“ bezeichnet, enthält den Entwurf der Goetheschen Wissenschaft von den Farben. Der zweite Teil (Enthüllung der Theorie Newtons) enthält die Auseinandersetzung Goethes mit der Newtonschen Farbentheorie. Der dritte historische Teil enthält die von Goethe gesammelten Materialien zur Farbenlehre vom Altertum bis in seine Zeit.
     Der didaktische Teil der Farbenlehre gliedert sich in die Einleitung und sechs Abteilungen. In der Einleitung gibt Goethe eine Erklärung, was denn Farbe sei: „Die Farbe sei ein elementares Naturphänomen für den Sinn des Auges.“ Die erste Abteilung der Farbenlehre, betitelt „Physiologische Farben“, handelt von den „Farben, die dem Auge angehören und auf Wirkung und Gegenwirkung desselben beruhen“. Diese Farben bilden „das Fundament der ganzen Lehre“ (§ 1 der Farbenlehre), sie entsprechen nach heutigem Sprachgebrauch Farbempfindungen, die im Sehorgan des Menschen hervorgerufen werden. Zwei weitere Erscheinungsweisen der Farben werden in den nachfolgenden Abteilungen „Physische Farben“ und „Chemische Farben“ behandelt; diese Farben werden heute als Lichtfarben bzw. Körperfarben bezeichnet, die bekanntesten Vertreter sind die prismatischen Farben bzw. die Pigmentfarben. Physische als auch chemische Farben benennen keine Farbempfindungen, sondern von außen auf das Auge wirkende Farbreize. Die vierte Abteilung „Allgemeine Ansichten nach innen“ behandelt verschiedene Möglichkeiten der „Ansicht der Farbenerscheinung und –erzeugung.“ In einer fünften Abteilung „Nachbarliche Verhältnisse“ werden die Beziehungen der Farbenlehre zur Philosophie, den Wissenschaften und der Färbetechnik diskutiert. Die sechste und letzte Abteilung „Sinnlich-sittliche Wirkung der Farben“ enthält Überlegungen, wie die „Farbe als Element der Kunst betrachtet, zu den höchsten ästhetischen Zwecken mitwirkend genutzt werden kann.“
     Da die Anerkennung von Goethes Farbenlehre mit ihrer Anerkennung als Wissenschaft steht und fällt, werden wir uns in der Hauptsache mit der ersten Abteilung „Physiologische Farben“ des didaktischen Teils beschäftigen. Zitate aus den übrigen Abteilungen des didaktischen Teils sowie aus dem zweiten (polemischen) und dem dritten (historischen) Teil der Farbenlehre werden wir nur heranziehen, soweit diese zur Vervollständigung, Vervollkommnung und Ergänzung des zu den physiologischen Farben Gesagten von Nutzen sind.
     Goethe untersucht in der Abteilung „Physiologische Farben“ zunächst Nachbilder von schwarzen und weißen Bildern, die im ersten Fall hell, im zweiten dunkel erscheinen, und schreibt: „Es ist die ewige Formel des Lebens, die sich auch hier äußert. Wie dem Auge das Dunkle geboten wird, so fordert es das Helle; es fordert Dunkel, wenn man ihm das Hell entgegenbringt, und es zeigt eben dadurch seine Lebendigkeit, sein Recht, das Objekt zu fassen, indem es etwas, das dem Objekt entgegengesetzt ist, aus sich selbst hervorbringt“ (§38 der Farbenlehre). Der von Goethe beschriebene Effekt läßt sich mit Hilfe von Abb. 10 a und b nachvollziehen.
     Von den farblosen erfolgt sodann der Übergang zu den farbigen Nachbildern. Goethe schreibt dazu: „Wie von den farblosen Bildern, so bleibt auch von den farbigen der Eindruck im Auge, nur dass uns die zur Opposition aufgeforderte und durch den Gegensatz eine Totalität hervorbringende Lebendigkeit der Netzhaut anschaulicher wird“ (§48 der Farbenlehre). Und weiter: „Um der Kürze zu bemerken, welche Farben denn eigentlich durch diesen Gegensatz hervorgerufen werden, bediene man sich des illuminierten Farbenkreises unserer Tafeln, der überhaupt naturgemäß eingerichtet ist und auch hier seine guten Dienste leistet, indem die in demselben diametral einander entgegengesetzten Farben diejenigen sind, welche sich im Auge wechselseitig fordern. So fordert Gelb das Violette, Orange das Blaue, Purpur das Grüne, und umgekehrt“ (§ 50 der Farbenehre). Der von Goethe an farbigen Nachbildern beobachtete Gegenfarben-Effekt läßt sich mittels der Abbildungen 11 a – f bequem nachempfinden.
    Goethe fährt dann weiter fort: „Haben wir bisher die entgegengesetzten Farben sich einander sukzessiv auf der Retina fordern sehen, so bleibt uns noch übrig zu erfahren, dass diese gesetzliche Forderung auch simultan bestehen könne. Malt sich auf einem Teile der Netzhaut ein farbiges Bild, so findet sich der übrige Teil sogleich in einer Disposition, die bemerkten korrespondierenden Farben hervorzubringen“ (§56 der Farbenlehre). Entsprechend der von Goethe verwendeten Terminologie wird heute das aufeinanderfolgende Auftreten von Farbe und Gegenfarbe (vergl. Abbn. 11 ) als Sukzessivkontrast, das gleichzeitige Auftreten beider (vergl. Abbn. 1) als Simultankontrast bezeichnet.
    Sich auf den Simultankontrast beziehend schreibt Goethe: „Ehe wir jedoch weiter schreiten, haben wir noch höchst merkwürdige Fälle dieser lebendig geforderten, nebeneinander bestehenden Farben zu beobachten, und zwar indem wir unsre Aufmerksamkeit auf die farbigen Schatten richten“ (§ 62 der Farbenlehre). Im § 75 folgt dann die eingangs wiedergegebene eindrucksvolle Schilderung der Beobachtung farbiger Schatten, die Goethe beim Abstieg vom schneebedeckten Brocken im Jahr 1777 gemacht hat.
     Zwei wichtige Erkenntnisse zur Natur der physiologischen Farben finden sich nicht in der Abteilung „Physiologische Farben“, wo sie eigentlich hingehören. Wir wissen nicht, was Goethe bewogen hat, erst in einer späteren Abteilung der Farbenlehre über die Mischung von physiologischen Farben und im Historischen Teil der Farbenlehre über die zwei Unterkategorien der physiologischen Farben zu berichten.
    Im Abschnitt „Mischung“ der Abteilung „Chemische Farben“ wird neben der Mischung von physischen (prismatischen) und von chemischen (Pigment-) Farben auch die Farbenmischung mit physiologischen Farben erwähnt. Es heißt dort: „Physiologische Farben nehmen gleichfalls Mischung an. [...] Wenn man die im Auge verweilenden farbigen Scheinbilder auf farbige Flächen führt, so entsteht auch eine Mischung und Determination des Bildes zu einer anderen Farbe, die sich aus beiden herschreibt“ (§ 562 und § 563 der Farbenlehre). Zur Verwirklichung von Farbmischexperimenten machen wir uns die Erfahrungen der in den Abbildungen 11 durchgeführten Experimente mit Nachbildern zunutze, die erscheinen, wenn man das Auge von dem durch das farbige Quadrat verursachten Farbreiz abwendet und auf eine graue Fläche schaut, auf der dann das Nachbild in der Gegenfarbe erscheint. Bietet man dem Auge anstelle einer grauen Fläche eine farbige Fläche zur Hervorrufung der Gegenfarbe an, so mischt sich die Gegenfarbe mit der Farbe der Fläche. In Abb. 12 ist als Beispiel die Mischung von Blau und Gelb zu Grün dargestellt. Mit Hilfe des Gegenfarbeneffekts und der Mischungsgesetze von physiologischen Farben lassen sich die sechs Primärfarben des Goetheschen Farbenkeises aus den beiden gut definierbaren Mutterfarben Gelb und Blau ableiten (Abb. 13).


 
10. Unterteilung in „fixe“ und „apparente“ physiologische Farben

   Nach dem bisher Geschilderten könnte der Eindruck entstehen, dass Goethe unter einer „physiologischen Farbe“ nur die sukzessiv oder simultan zu einer Farbe erzeugte Gegenfarbe versteht. Erst in der auf die „Physiologischen Farben“ folgenden Abteilung der „Physischen Farben“ geht Goethe näher auf die gravierenden Unterschiede in der Hervorbringung von Bildern und von Gegenbildern ein und schreibt: „Man kann die primären Bilder ansehen, erstlich als ursprüngliche, als Bilder, die von dem anwesenden Gegenstande in unserm Auge erregt werden, und die uns von seinem wirklichen Dasein versichern. Diesen kann man die sekundären Bilder entgegensetzen, als abgeleitete Bilder, die, wenn der Gegenstand weggenommen ist, im Auge zurückbleiben, jene Schein- und Gegenbilder, welche wir in der Lehre von physiologischen Farben umständlich abgehandelt haben“ (§ 221 der Farbenlehre).
    Der Einsicht, dass eine Unterscheidung von „ursprünglichen Bildern“ und „abgeleiteten Bildern“ eine Unterteilung der Kategorie „physiologische Farben“ in zwei Unterkategorien erfordert, die sich auch terminologisch unterscheiden müssen, gibt Goethe erst im Historischen Teil der Farbenlehre Raum. Im Abschnitt „Intentionelle Farben“ heißt es einleitend: „Da wir der intentionellen Farben in unserm Entwurf nicht besonders gedacht haben und dieser Ausdruck in den Schriftstellern vorzüglich auch in den gegenwärtigen, vorkommt, so ist unsre Pflicht, wenigstens historisch dieser Terminologie zu gedenken.“ Und später: „Daß die sämtlichen Farben, die physiologischen apparenten und fixen, untereinander in der größten Verwandtschaft stehen, wäre Torheit zu leugnen. Wir selbst haben diese Verwandtschaft in unserm Entwurfe abzuleiten und, wo es nicht möglich war, sie ganz durchzuführen, sie wenigstens anzudeuten gesucht.“ An anderer Stelle spricht er von der „wahren, permanenten und fixen Farbe“ und stellt diese der „vergänglichen, unstäten, und apparenten Farbe“ gegenüber.
    Die Einteilung in „fixe“ und „apparente“ physiologische Farben in den heutigen Sprachgebrauch übersetzt: Erstere sind mit dem äußeren Farbreiz untrennbar verbundene Farbempfindungen, „die von dem anwesenden Gegenstande in unserm Auge erregt werden, und die uns von seinem wirklichen Dasein versichern“, letztere sind freie, d. h. nicht an einen Farbreiz gekoppelte Farbempfindungen, „die, wenn der Gegenstand weggenommen ist, im Auge zurückbleiben“. Die Unterscheidung von fixen und apparenten physiologischen Farben wird unmittelbar ersichtlich bei der Erzeugung von farbigen Nachbildern, wie sie in den Abbildungen 11 demonstriert wurde. Beim Betrachten der farbigen Quadrate in der oberen Abbildungshälfte empfindet man eine fixe Farbe, heftet man den Blick nach einiger Zeit auf die untere graue Abbildungshälfte, dann empfindet man eine apparente Farbe. In Abb. 12 wird die apparente Farbe Blau mit der fixen Farbe Gelb gemischt.
Es sind gerade die apparenten physiologischen Farben, welche sich für experimentelle Untersuchungen von Farbempfindungen eignen, da sie nicht an einen Farbreiz gekoppelt sind. Die in der Wissenschaft kolportierte irrige Meinung, dass man Farbempfindungen, die ein Mensch hat, z. B. mit einem Farbfotoapparat registrieren könne, bezieht sich auf die an einen Farbreiz gekoppelte fixe Farbempfindung. Diese Farbempfindung wird jedoch durch den Apparat nur simuliert, registriert wird der aus einer elektromagnetischen Wellenstrahlung bestehende Farbreiz, der dann zur Erzeugung von Farbpigmenten benutzt wird, die der Farbempfindung adäquat sind.

 
11. Die Entscheidung im Farbenstreit zwischen Goethe und Newton

   Die Aufteilung der Kategorie der physiologischen Farben in die beiden Unterkategorien „fixe“ und „apparente“ physiologischen Farben ist gleichsam der Schlußstein im Gebäude der Goetheschen Wissenschaft von den Farben. Von dieser Warte aus ist es auch möglich, „des Pudels Kern“ im Farbenstreit zwischen Goethe und Newton präzise in Worte zu fassen.
    Nach Newtons eigenen Aussagen handeln die Teile der Optics, welche sich auf „Farbe“ beziehen, von Farbreizen. Die Lehre von den Farben, von Newton als „eine ebenso sichere mathematische Theorie, wie irgend ein anderer Teil der Optik“ bezeichnet, ist somit eine Lehre von den durch Licht hervorgerufenen Farbreizen, nicht eine Lehre von den Farbempfindungen. Nur die Textstelle in der Optics, in der es heißt, dass „die Farben von der Natur des Lichts abhängen und nicht durch die Einbildungskraft hervorgebracht werden“, bezieht sich unzweifelhaft auf Farbempfindungen, auf das, was Goethe physiologische Farben nannte, und zwar auf die fixen physiologischen Farben, die an den durch das Licht ausgeübten Farbreiz gekoppelt sind. Die apparenten physiologischen Farben, die nicht „von der Natur des Lichts abhängen“ und nicht mit Apparaten nachweisbar sind, werden von Newton der Einbildungskraft zugewiesen; sie sind demzufolge nichtexistent und für etwas Nichtexistierendes kann es auch keine Gesetze geben. - Im Gegensatz dazu hat Goethe in seiner Farbenlehre nachgewiesen, dass die nicht an einen Farbreiz gekoppelten apparenten Farben „unmittelbar nach einem unwandelbaren Naturgesetze hervorgebracht werden“ und dass es gerade diese Farben sind, mit denen die Gesetze des menschlichen Farbensehens aufgefunden werden können.
    Mit dem Rüstzeug der Goetheschen Farbenlehre ist es jedem farbentüchtigen Menschen möglich, die Gesetze des menschlichen Farbensehens in Selbstversuchen aufzufinden. Diese Gesetze ergeben sich aus allen möglichen Mischungen zwischen den sechs Primärfarben des Goetheschen Farbenkreises, wobei mindestens einer der beiden Mischungspartner eine apparente physiologische Farbe sein muss; eine Mischung von zwei fixen physiologischen Farben würde wegen deren Kopplung an die entsprechenden Farbreize Gesetzmäßigkeiten für Farbreize, nicht jedoch für Farbempfindungen liefern.

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