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Mit Goethe und Aristoteles   
zurück zur Vernunft

 

  Das Buchprojekt
"Mit Goethe und Aristoteles zurück zur Vernunft"


Teil II   Der Aristoteles-Komplex
            -  Grundlagen für eine ganzheitliche Naturwissenschaft
J. W. v. Goethe
Aristoteles
 
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Suche nach den Prinzipien in der griechischen Philosophie


    A. Der Übergang vom Mythos zum Logos
    B. Die Voraristoteliker
    C. Aristoteles und dessen Kritik an seinen Vorgängern
    D. Merkmale der ersten Philosophie des Aristoteles
    E. Lehre von den vier Ursachen
    F. Stufenleiter der Natur  
    G. Die Verfälschung der ersten Philosophie des Aristoteles
    H. Anmerkungen











Suche nach den Prinzipien in der griechischen Philosophie

A. Der Übergang vom Mythos zum Logos

    Vor etwa zweieinhalb Jahrtausenden erfolgte eine radikale Umwälzung in der Geschichte des menschlichen Denkens. Im antiken Griechenland traten Philosophen auf, die die Erklärung der Welt nicht mehr in dem Wirken von übernatürlichen Gottheiten suchten, sondern davon ausgingen, dass das Weltgeschehen mit Hilfe des Denkens erklärt werden kann. An die Stelle der früheren mythischen Erzählungen von der Entstehung der Welt traten Bestrebungen, eine vernunftsmäßig begründete Erklärung für das Entstehen und Vergehen zu geben. Diese Wende im menschlichen Denken wird daher als Übergang vom Mythos (griech. Erzählung) zum Logos (griech. Denken, Sprache, Vernunft) bezeichnet.
      Damit das neue Denken Platz greifen konnte, mussten neue Begriffe geschaffen werden; die dafür benutzten Worte stammten ursprünglich aus der Umgangssprache und erhielten, in einem neuen Zusammenhang gebraucht, allmählich eine neue Bedeutung. Ein Begriff von zentraler Bedeutung ist das griechische Wort "arché", welches umgangssprachlich die beiden Bedeutungen "das Erste" (bzw. "der Ursprung") und "das Herrschende" hat. Nach heutigen Sprachgebrauch hat arché die Bedeutung von (Grund)Prinzip. Aristoteles gibt in seiner Metaphysik folgende Definition: "Allen Prinzipien ist gemeinsam, dass sie ein Erstes sind, von dem aus entweder ein Ding ist oder entsteht oder erkannt wird" [1]. Eine sehr anschauliche Definition gibt später der Dichter Goethe, wenn er Faust von dem sprechen läßt, "was die Welt im Innersten zusammenhält". Mit Hilfe des arché-Begriffs läßt sich die als Philosophie bezeichnete neue geistige Tätigkeit des Menschen folgendermaßen charakterisieren: "Philosophie ist eine Wissenschaft von den Prinzipien" [2].


B. Die Voraristoteliker

    Die griechische Philosophie begann im 6. Jahrhundert v. Chr. mit der ionischen Naturphilosophie. Für die Anhänger dieser Philosophie ist die arché ein materieller Urstoff, der dem Werden und Vergehen der Welt zugrunde liegt. Für diesen Urstoff hielt Thales das Wasser, Anaximenes die Luft und Heraklid das Feuer. Später lehrte Empedokles, dass alles Werden und Vergehen in der Natur aus der Mischung und Entmischung von vier unveränderlichen Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde beruht und Anaxagoras nahm an, dass die Dinge aus einer unbegrenzten Anzahl von Urteilchen betehen. Die materialistischen Denkrichtung in der griechischen Philosophie erreichte ihren Höhepunkt mit Leukipp (Mitte 5. Jhd.) und Demokrit (460 - 370 v. Chr.), den Begründern der Atomistik. Diese Lehre geht von zwei sich ergänzenden Prinzipien aus, des Atoms und des "Leeren". Die Einzeldinge entstehen und vergehen durch Vereinigung und Trennung der Atome, die als ewig, unzerstörbar und undurchdringlich angesehen werden; auch die Seele und das Denken wird aus (besonders runden und glatten) Atomen bestehend angenommen.
     Eine zweite Entwicklungslinie geht von der Philosophie des Pythagoras (580 - 496 v. Chr.) aus, der die Zahl als Urprinzip aller Dinge (arché) annahm. Diese Linie führte dann weiter zu Sokrates (469 - 399 v. Chr.), der Materialismus und Naturerkenntnis ablehnte, und zu dessen Schüler Platon (427 - 347 v. Chr.). Platon, der im Gegensatz zu den Materialisten vom Primat der "Idee" ausgeht und diese als arché ansieht, ist der Begründer der idealistischen Philosophie. Die Platonsche Ideenlehre besagt, das das Wesen der Welt in unveränderlichen Ideen besteht, die unabhängig und vor den materiellen Dingen existieren und die Urbilder dieser Dinge darstellen; der Idee einer Erscheinung wird somit eine von der Erscheinung selbst losgelöste Existenz zugesprochen. Die Vermittlerin zwischen den materiellen Dingen und den Ideen ist nach Platon die Seele des Menschen. Bereits vor ihrem Eingehen in den Körper hat die Seele im Reich der ewigen Ideen existiert und sie hat dort die Ideen, an die sie sich während ihres Aufenthaltes im Körper und bei Begegnung mit sinnlich wahrgenommenen Dingen zurückerinnert, erblickt. Die Ideen können daher nicht mit Hilfe der Sinne, sondern nur durch Rückerinnerung (Anamnese) erkannt werden. Nach dem Absterben des Körpers kehrt der Seele wieder in das Reich der ewigen Ideen zurück.


C. Aristoteles und dessen Kritik an seinen Vorgängern

    Der universellste Denker des alten Griechenland war Aristoteles (384 - 322 v. Chr.), er trat mit 17 Jahren in die von Platon geleitete und als "Akademie" bezeichnete Philosophenschule ein, war zunächst ein Schüler Platons und später dessen Kritiker. Aristoteles behandelte in seinen Schriften fast alle Gebiete der Natur und menschlichen Gesellschaft und schuf das universellste System der antiken Philosophie, das ganz wesentlich über den philosophischen Materialismus und Idealismus hinausgeht und diese beiden Denkrichtungen in sich einschließt. Seine philosophischen Erkenntnisse hat Aristoteles in Schriften niedergelegt, die unter dem Namen "Metaphysik" auf uns überkommen sind. Im ersten Buch (Buch Alpha) der Metaphysik setzt sich Aristoteles eingehend mit den philosophischen Lehren seiner Vorgänger auseinander.
    Aristoteles wendet sich gegen die Meinung der ersten Philosophen, dass nur Prinzipien für das Stofflich-Materielle existieren sollen. Er sagt: "Die Materie bewirkt doch nicht ihre eigene Veränderung. Ich meine es etwa so: weder das Holz noch die Bronze sind Ursache dafür, wenn sich eines von ihnen verändert; weder stellt das Holz ein Bett her noch die Bronze eine Statue, sondern etwas anderes ist die Ursache der Veränderung. Dies aber zu suchen bedeutet ein davon verschiedenes Prinzip suchen" [3]. Er gibt hier ganz klar seiner Überzeugung Ausdruck, dass es über stoffliche Prinzipien hinaus noch andere Prinzipien geben muss. Ein zweiter Vorwurf an seine materialistischen Vorgänger richtet sich dagegen, dass mit der Annahme nur stofflicher Prinzipien für alle Dinge die Wesensunterschiede, die es zwischen den verschiedenen Dingen gibt, gar nicht erfaßt werden können. "Keiner (der früheren Philosophen) aber hat das Was-es-ist-dies-zu-sein, das heißt das Wesen, deutlich angegeben" [4], heißt es.
    Den Vorwurf der Einseitigkeit bei der Untersuchung der Prinzipien, nach denen die Natur strukturiert ist, hat Aristoteles nicht nur an die Adresse der Materialisten gerichtet, sondern auch an die Vertreter der idealistischen Richtung in der Philosophie, und hier insbesondere an Platon. Platon vermeidet zwar die Einseitigkeit der Materialisten, die den Dingen nur ein einziges Wesen, das der Stofflichkeit, zubilligen; er nimmt unterschiedliche Wesen der Dinge an und nennt diese Wesen Ideen. Platon geht jedoch davon aus, dass die Ideen außerhalb der Sinnesdinge und unabhängig von ihnen existieren und genau dagegen wendet sich Aristoteles, indem er fragt: "Wie können die Ideen, die ja die Wesen der Dinge darstellen, gesondert von ihnen existieren? [5]. Aristoteles verlegt die Idee eines Dinges in das Ding selbst und nennt diese Idee dann die Form, die wahre Wirklichkeit des Dinges. Unter der Form versteht er aber nicht nur die äußere Form, sondern das Wesen, das "Was-es-ist-dies-zu-sein" des Dinges. So ist z.B. das Wesen der Pflanze das, was die Pflanze zur Pflanze macht, und nicht etwa zu einem Tier.
    Aristoteles, der die sinnliche Wahrnehmung als Ausgangspunkt jeglicher Naturerkenntnis ansieht, wirft Platon und dessen Anhängern spekulatives Denken vor und kritisiert Platons These von der Existenz einer Einheitswissenschaft von den Ideen und der Nichtexistenz einer Wissenschaft von der Natur; nach der platonischen Ideenlehre ist es unmöglich, über Sinnesdinge, die ja einer ständigen Veränderung unterworfen sein sollen, allgemeine Definitionen aufzustellen. In seiner Polemik gegen Platon sagt Aristoteles: "Gerade wenn jene Denker über die Phänomene sprechen, behaupten sie Dinge, die mit den Phänomenen nicht übereinstimmen. Das hat darin seinen Grund, dass sie die Prinzipien, mit deren Hilfe man die Struktur des Naturgeschehens erkennt, nicht richtig anwenden, sondern alles auf gewisse vorgefaßte Meinungen zurückführen. Sie benehmen sich wie Leute, die in der Diskussion um jeden Preis an ihren Thesen festhalten wollen, als ob nur sie die wahren Prinzipien besäßen. Nun hat aber jede Wissenschaft ihre besonderen Prinzipien, je nach dem Gegenstand der Forschung" [6]. Aus der Erkenntnis, dass es in der Natur mehrere Strukturprinzipien gibt, folgert Aristoteles, dass die Naturwissenschaft aus mehreren selbständigen Einzelwissenschaften besteht.
     Aristoteles hat sich immer wieder gegen das einseitige Denken seiner Vorgänger gewandt, seine Kritik richtete sich sowohl gegen diejenigen, die eine materialistische als auch gegen diejenigen, die eine idealistische Position vertreten haben. Viele seiner Aussprüche beziehen sich daher auf beide Positionen gemeinsam. Drei Beispiele sollen dies belegen: "Es geht klar hervor, dass die einseitigen Aussagen, die für alle Dinge gelten sollen, unmöglich zutreffen - wie einige behaupten" [7]; "In der Suche nach Elementen für alles Seiende und in der Behauptung, dass man sie habe, ist keine Wahrheit zu finden" [8]; "Es ist unmöglich, die Elemente des Seienden zu finden, ohne die vielfachen Bedeutungen auseinanderzuhalten, die der Ausdruck >>seiend<< hat" [9]. Aristoteles verwendet hier und anderswo die Ausdrücke "seiend" bzw. "das Seiende", denen sehr viele Bedeutungen zukommen; es wird darunter alles das verstanden, was "ist", gleichgültig, ob es sich nun um ein konkretes Ding, ein Ereignis, etwas Gedachtes oder etwas Gefühltes handelt.


D. Merkmale der ersten Philosophie des Aristoteles

   Das Wort "Metaphysik", das heute als Sammelname für eine Reihe philosophischer Lehrschriften des Aristoteles und gleichzeitig zur Bezeichnung des in diesen Schriften abgehandelten Gegenstandes benutzt wird, hat Aristoteles selbst nicht gekannt, er hat diesen Gegenstand als "erste Philosophie" oder auch als "Weisheit" bezeichnet.
      Im zweiten Kapitel des Buches Alpha gibt Aristoteles eine kurze Einführung in die gesuchte und dort als Weisheit bezeichnete Wissenschaft, er beschreibt thesenartig ihr Ziel und ihre Merkmale [10]. Es heißt dort: Weisheit ist die "Wissenschaft des im höchsten Grade Wißbaren und im höchsten Grade wißbar sind die ersten Prinzipien und Ursachen". Sie ist die "Wissenschaft vom Allgemeinen". ... "Doch gerade dies, das Allgemeinste, ist für die Menschen am schwierigsten zu erkennen ist, da der Abstand zu den Sinneswahrnehmungen am weitesten ist". In der Wissenschaftshierarchie ist die Weisheit die ranghöchste Wissenschaft, alle anderen Wissenschaften sind ihr untergeordnet; sie ist die "Königin der Wissenschaften". Diese Wissenschaft wird "um ihrer selbst willen und der Erkenntnis wegen" betrieben und nicht ihrer Resultate wegen. "Man philosophiert, um zu wissen, keineswegs aber um eines Nutzens willen ... Diese Wissenschaft ist als einzige von allen (Nutzensbestrebungen) frei, sie ist allein um ihrer selbst willen da" [11]. Die Philosophie ist die "Wissenschaft der Wahrheit" [12], wobei Wahrheit die Übereinstimmung zwischen dem Denken und dem Seienden ist [13].
    Von besonderem Interesse sind die Äußerungen von Aristoteles über das Verhältnis zwischen der "Weisheit" und den Einzelwissenschaften, die er als "Teile der Weisheit" bezeichnet [14], und seine Begründung, warum er die Wissenschaft "Weisheit" auch "erste Philosophie" nennt. Er sagt: "Es gibt eine Wissenschaft, die das Seiende als solches betrachtet und die ihm an sich zukommenden Bestimmungen. Diese ist aber mit keiner der sogenannten Einzelwissenschaften identisch, weil keine der anderen Wissenschaften das Seiende als solches allgemein untersucht, sondern sich ein Teil davon herausschneidet und dessen Bestimmungen betrachtet" [15]. So untersucht beispielsweise die Mathematik das Seiende, sofern es quantifizierbar ist, die Biologie das Seiende, sofern es Leben besitzt und die Geschichte das Seiende, sofern es der Vergangenheit angehört; allein die Philosophie untersucht das "Seiende als solches" oder das "Seiende als Seiendes".
     Zur Erklärung des Begriffs "erste Philosophie" wird ein Vergleich mit der Mathematik durchgeführt: "Es gibt ebenso viele Teile der Philosophie, wie es Wesen gibt. Daher muss darunter eine die erste Philosophie sein und eine die daran anschließende Philosophie. Denn das Seiende ... verfügt über Gattungen; ihnen also folgen entsprechend die (Einzel)Wissenschaften. Denn es verhält sich dem Wortgebrauch nach beim Philosophen wie beim Mathematiker: auch die Mathematik verfügt über Teile, und es gibt auch im Mathematischen eine erste und eine zweite Wissenschaft" [16]. Etwas später heißt es dazu: "Geometrie und Astronomie handeln von einer bestimmten Natur, die allgemeine Mathematik behandelt alle gemeinsam" [17]. Die Axiome der allgemeinen Mathematik haben allgemeine Gültigkeit, unabhängig, ob sie auf geometrische oder astronomische Objekte angewendet werden; die allgemeine Mathematik ist demnach die erste Mathematik, Geometrie und Astronomie gehören zur zweiten Mathematik.
     Die erste Philosophie ist eine universale Prinzipienwissenschaft, die das Seiende schlechthin betrachtet; die zweite Philosophie umfaßt die Einzelwissenschaften, die sich aus dem Seienden einen Teil herausschneiden und es jeweils mit nur einem Prinzip zu tun haben. Aristoteles' Vergleich zwischen Philosophie und Mathematik läßt nur eine Schlußfolgerung zu: Ebensowenig, wie Geometrie und Astronomie (zweite Mathematik) ohne die Erkenntnisse der ersten Mathematik auskommen, können die Einzelwissenschaften (zweite Philosophie) auf die Erkenntnisse der ersten Philosophie verzichten.


E. Lehre von den vier Ursachen

   Aristoteles übt Kritik an seinen Vorgängern, die annahmen, das die stoffliche Ursache die einzige Ursache für alle Dinge sei [18] und setzt dieser Lehre von der einen Ursache für alle Dinge seine Lehre von den vier Ursachen entgegen.
    Aristoteles ist sich bewußt, dass der Begriff "Ursache" vieldeutig ist und es schon von ein und demselben Ding mehrere Ursachen gibt, so ist z. B. von einer Statue sowohl die Kunst des Bildhauers, der sie geschaffen hat, als auch das Erz, aus dem sie besteht, Ursache [19]. Er gelangt zu der Erkenntnis, dass sich alle möglichen Ursachen einer von vier Ursachenkategorien zuordnen lassen und führt diese Ursachenkategorien mehrmals in seinen Werken an [20], [21], [22], [23], [24], [25]:
1. Ursache als das, "woraus" etwas ist; kurz als "Stoffursache" bezeichnet (z. B. das Erz als Stoffursache für die Statue).
2. Ursache im Sinne des "Was-es-ist-dies-zu-sein"; als "Formursache" bezeichnet (z. B. die der Statue eigene Gestalt). Unter Form ist nicht nur die äußere Form, sondern (z. B. bei Lebewesen) auch die innere Form bzw. das dem Ding gemäße Wesen zu verstehen.
3. Ursache als das, woher der Anfang der Bewegung kommt; als "Wirkursache" bezeichnet (z. B. die handwerklichen Fertigkeiten des Bildhauers als Wirkursache für die Statue).
4. Die zu 3. entgegengesetzte Ursache als Ziel, auf das alle Bewegung hinzielt; als Ziel- oder Zweckursache bezeichnet (z. B. die Vorstellung von der Statue im Kopf des Künstlers als Zielursache für die Statue).
      Mit seiner Lehre von den vier Ursachen wandte sich Aristoteles entschieden von der Ideenlehre seines Lehrers Platon ab. Er sah es als fundamentalen Irrtum an, dass das von Platon als Idee bezeichnete Wesen der Dinge außerhalb ihrer selbst liegen und unabhängig von ihnen existieren solle; so verlegte er diese Idee in die Dinge selbst. Als Idee bzw. Wesen eines Dinges, als seine wahre Wirklichkeit, bezeichnete er die Form. Der Stoff ist die Möglichkeit eines Dinges, der die Form erst Wirklichkeit verleiht. Mit Hilfe der beiden Begriffspaare Stoff - Form und Möglichkeit - Wirklichkeit hat Aristoteles die Entstehung aller Dinge erklärt; an vielen Stellen seines Werks hat er diese Begriffspaare anschaulich erläutert.
     Wichtig für das Verständnis von "Stoff" (griech. hyle) ist die folgende Stelle: "Die übereinstimmend anerkannten Wesen sind die sinnlich erfaßbaren; die sinnlich erfaßbaren Wesen aber verfügen alle über Stoff. ... unter Stoff verstehe ich das, was nicht der Verwirklichung nach, doch dem Vermögen nach ein Das ist" [26]. Aus dieser Stelle geht hervor, dass Aristoteles unter "Stoff" nicht das versteht, was wir heute als "Materie" bezeichnen, eher das, was wir heute als "Material für etwas" bezeichnen würden. Stoff ist das, was dem Vermögen nach ein Ding ist.
    Zum Begriffspaar "Möglichkeit - Wirklichkeit" sagt Aristoteles: "Der Stoff existiert dem Vermögen nach, weil er zur Form gelangen kann; sobald er aber der Verwirklichung nach existiert, ist er in der Form" [27], und er erläutert diesen Gedanken am Beispiel des Hauses: "Wenn einige bei der Definition des Was eines Hauses sagen, es sei Steine, Backsteine und Hölzer, so meinen sie das Haus dem Vermögen nach, denn jene Dinge sind sein Stoff; wenn aber andere einen Behälter nennen, der Sachen und Körper behütet, ... meinen sie die Verwirklichung, das Haus der Wirklichkeit nach" [28].
    Ein weiterer Grundbegriff der Aristotelischen Philosophie ist die Entelechie (griech. entelecheia, was sein Ziel in sich selbst hat). Aristoteles hat dieses Wort geschaffen, damit der Unterschied zwischen toten bzw. von Menschen geschaffenen Dingen und lebendigen Dingen überhaupt begriffen werden kann. Während bei den von Menschen geschaffenen Dingen, z. B. bei einer Statue, die Stoffursache von der Formursache getrennt und der Übergang von der im Stoff vorhandenen Möglichkeit zur Verwirklichung in der Form durch die von außen kommende Ziel- und die Wirkursache (Künstler, Bildhauer) erklärt werden kann, ist diese Trennung von Ursachen bei Lebewesen nicht mehr möglich. Die Ziel- und die Wirkursache kommen hier nicht von außen, sondern liegen im Lebewesen selbst. Diese Selbstverwirklichung eines Lebewesens nennt Aristoteles Entelechie ("was sein Ziel in sich trägt"). In seiner Schrift "De anima" definiert Aristoteles die Entelechie als ein Doppeltes; "eine erste Entelechie wie das Wissen (episteme)", das man hat, ohne es zu betätigen, d.h. Wissen als ruhender Zustand, "eine zweite wie das Überdenken (theorein)", die Betätigung des Wissens im Gebrauch" [29].



F. Stufenleiter der Natur

    Durch Erweiterung seiner Vorstellungen zum Stoff-Form-Verhältnis kam Aristoteles zu der Überlegung, dass jede Form wiederum als Stoff gegenüber einer höheren Form betrachtet werden kann; so ist beispielsweise der Ziegelstein Form gegenüber dem Lehm, aus dem er hergestellt wurde, aber Stoff gegenüber dem aus Ziegelsteinen gebauten Haus.
    Der Gedanke einer Hierarchie von Formprinzipien lieferte Aristoteles den Schlüssel, um die Grundstrukturen des Naturgeschehens zu erkennen. So wie bereits Geformtes seinerseits wieder Stoff für eine höhere Formung sein kann, so kann ein niedriges Entwicklungsstadium in der Natur als Möglichkeit (Stoff) für ein höheres Entwicklungsstadium angesehen werden, das dessen Verwirklichung (Form) darstellt. Aristoteles gelangte so zum Bild einer Stufenleiter, deren niedrigste Stufe die unbelebte Natur darstellt und deren höhere Stufen die belebten Dinge versinnbildlichen; die belebten Dinge wiederum lassen sich mit Hilfe einer Hierarchie von Formprinzipien, die Aristoteles mit Seelenqualitäten identifiziert, stufenweise klassifizieren. Seine Erkenntnisse über das Wesen der belebten Dinge hat Aristoteles in seiner Schrift "Über die Seele" (De anima) zusammengestellt.



G. Die Verfälschung der ersten Philosophie des Aristoteles

    Die Bezeichnung "Metaphysik" (griech. meta, nach und physis, Natur) ist ein ursprünglich von einem Redakteur der aristotelischen Schriften geprägter Zufallsname, der ausdrücken sollte, dass eine Reihe von philosophischen Lehrschriften bibliothekarisch den Schriften zur Naturwissenschaft nachgeordnet seien. Dies hatte dann die philosophische Fehlinterpretation zur Folge, die Metaphysik sei eine Lehre von den der Erfahrung entzogenen, hinter der Natur liegenden Gründen, die somit kein Gegenstand einer naturwissenschaftlichen Forschung sein können. Repräsentativ für viele gleichartige Bekenntnisse ist das folgende: "Metaphysik ist ein System von Aussagen, die nicht mit wissenschaftlichen Methoden begründet und überprüft werden können" [30]. (Dieses Credo ist natürlich dann und nur dann richtig, wenn der allgemeine Begriff "wissenschaftliche Methode" auf die einseitig-analytische Methode der modernen Naturwissenschaft eingeengt wird).
    Die Fehlinterpretation der Metaphysik als eine nicht auf Erfahrung gegründete Lehre hatte fatale Folgen für das Selbstverständnis der modernen Naturwissenschaft, die ihrem Erkenntnisideal nach eine Einzelwissenschaft im Sinne der aristotelischen Philosophie ist. Seit ihrem Entstehen hat die moderne Naturwissenschaft einen Verdrängungskampf gegen die aristotelische Philosophie geführt, sie betrachtet sich als der Philosophie übergeordnet und hat auf der Grundlage ihrer einzelwissenschaftlichen Erkenntnisse ein Weltbild konstruiert, welches sie der Philosophie aufzuoktroyieren versucht. Die Erkenntnisse des Aristoteles wurden damit regelrecht auf den Kopf gestellt. Für Aristoteles ist die heute als Metaphysik bezeichnete erste Philosophie den Naturwissenschaften, die zur zweiten Philosophie gehören, über- und damit vorgeordnet. Die Konstruktion eines Weltbildes ist die ureigenste Aufgabe der ersten Philosophie und nicht einer Einzelwissenschaft, die sich aus dem Seienden einen Teil herausgeschnitten hat und somit gar nicht in der Lage ist, ihre Erkenntnisse in einen Gesamtzusammenhang zu stellen. Eine Einzelwissenschaft, die sich nicht der ersten Philosophie unterordnet, hängt gewissermaßen in der Luft.
     Sein Credo als Wissenschaftler hat Aristoteles in seiner zweiten Analytik formuliert: "Einem Wissen, das lediglich Fakten konstatiert (Wissen, dass etwas ist), ist ein Wissen vorzuziehen, das die konstatierten Fakten auch erklärt (Wissen, dass und warum etwas ist). Wissen im strengen Sinn besitzt man nur dann, wenn man Rechenschaft über die Ursachen und Prinzipien geben kann" [31]. Aus diesem Credo folgt eine Definition dessen, was unter Naturwissenschaft zu verstehen ist: Naturwissenschaft im strengen Sinne ist die Suche nach den in der Natur obwaltenden Prinzipien. Nach dieser Definition ist die moderne Naturwissenschaft, die alle natürlichen Phänomene mit Hilfe eines Materieprinzips zu erklären versucht, keine Naturwissenschaft im eigentlichen Sinne, sondern eine Materiewissenschaft.
    Die Verstümmelung der modernen Naturwissenschaft zu einer Materiewissenschaft hat ihre Entsprechung in der Verstümmelung des von Aristoteles gefaßten Prinzipbegriffs zum modernen Begriff des "Naturgesetzes", welches in Wirklichkeit nicht mehr als ein Materiegesetz darstellt. Hier wird ein Teil (nämlich ein fälschlicherweise als "Naturgesetz" bezeichnetes Prinzip für das Materielle) für das Ganze (nämlich die Gesamtheit der in der Natur wirkenden Prinzipien) gesetzt. Im Gegensatz zum Prinzipienmonismus der modernen Naturwissenschaft geht Aristoteles von einer Prinzipienpluralität aus. Da nicht nur unbelebte Dinge, sondern auch Lebewesen aus Materie bestehen, gilt das Materieprinzip auch für diese. Nur gibt das Materieprinzip allein keine Erklärung dafür, was ein Lebewesen zu einem Lebewesen, ein Tier zu einem Tier und einen Menschen zum Menschen macht. Das Wesen von belebten Dingen läßt sich nur mit Prinzipien erklären, welche sich vom Materieprinzip unterscheiden und welche die einfache oder mehrfache Überformung der Materie in diesen Dingen beschreiben.
     Für die moderne Naturwissenschaft ist ein Naturgesetz ein Gesetz, welches universelle Gültigkeit, d. h. Allgemeingültigkeit in Raum und Zeit, besitzt; für sie ist es undenkbar, dass Naturgesetze existieren, die entstehen und auch wieder vergehen können. Der Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker warnt vor der Hoffnung, „in der Biologie Gesetze zu finden, die über jene der Physik hinausgehen, ohne ihnen zu widersprechen“ [32]. Für Aristoteles hingegen gibt es "Prinzipien und Ursachen, die entstehen können und vergänglich sind, ohne dass sie sich selbst in einem Entstehen und Vergehen befinden" [33]. Dieses Werden und Vergehen von Prinzipien geschieht fortwährend bei der Entstehung der Lebewesen durch die Evolution: Mit der Entstehung eines neuartigen Lebewesens entsteht auch ein neues Lebensprinzip, das diesem Wesen bzw. seiner Art zugeordnet ist; wenn die Art ausstirbt, wird mit ihr auch das zugeordnete Lebensprinzip wieder ausgelöscht.
      Der philosophische Alleinvertretungsanspruch der modernen Naturwissenschaft, die sich als Teil (Einzelwissenschaft) für das Ganze (erste Philosophie) setzt, führt nicht hin zu einem ganzheitlichen Verständnis der Natur, sondern davon weg. Das Weltbild der modernen Naturwissenschaft ist ein strikt materialistisches. Die Philosophie dieser Wissenschaft fällt somit auf die Philosophie der voraristotelischen Materialisten zurück, für die alle Dinge ein und dasselbe Wesen hatten und die eine Hierarchie oder Stufenleiter verschiedener Kategorien von Wesenheiten nicht kannten. Von Weizsäcker drückt diese Sichtweise so aus: "Die Reihe der Gestalten, die das Atom mit den Menschen verbindet, ist kontinuierlich" [34]. Bei dieser Sichtweise ist kein Platz für Prinzipien, die entstehen und vergehen können. Mit dem Postulat des universell (in Raum und Zeit) gültigen „Naturgesetzes“, das für alle in der Natur vorkommenden Phänomene zutreffen soll, hat sich die moderne Naturwissenschaft in ihrer Erkenntnissuche selbst kastriert.
    Die moderne Naturwissenschaft hat es vermocht, ihren philosophischen Alleinvertretungsanspruch bis heute aufrecht zu erhalten; ihr wird dies weiterhin nur gelingen, solange sie die Erkenntnis verdrängen kann, dass eine Naturwissenschaft im strengen Sinne (als Suche nach den in der Natur obwaltenden Prinzipien) gar nicht möglich ist ohne ein Fundament, das Aristoteles "erste Philosophie" nannte.



H. Anmerkungen

Verwendete Abkürzungen von Aristoteles’ Werken:
Met.: Metaphysica
(Die Zitate sind der Übersetzung von F. F. Schwarz (Reclam, Universalbibliothek Nr. 7913, Stuttgart 1970) entnommen.
Phys.: Physica
De gen an.: De generatione animalium
De an.: De anima
An. post.: Analytica posteriora

[1] Met. 1, 1013a. zurück z. Text
[2] Met. 1, 1059a. zurück z. Text
[3]  Met. 3, 984a. zurück z. Text
[4] Met. 7, 988a. zurück z. Text
[5] Met. 9, 991b. zurück z. Text
[6] De caelo III 7, 306a. zurück z. Text
[7] Met. 8, 1012a. zurück z. Text
[8] Met. 9, 992b. zurück z. Text
[9] Met. 9, 992b. zurück z. Text
[10] Met. 2, 982a - 983a. zurück z. Text
[11] Met. 2, 982b. zurück z. Text
[12] Met. 1, 993b. zurück z. Text
[13] Met. 8, 1011b. zurück z. Text
[14] Met. 4, 1061b. zurück z. Text
[15] Met. 1, 1003a. zurück z. Text
[16] Met. 2, 1004a. zurück z. Text
[17] Met. 1, 1026a. zurück z. Text
[18] Met. 3, 983b. zurück z. Text
[19] Met. 2, 1013b. zurück z. Text
[20] Met. 3, 983a. zurück z. Text
[21] Met. 2, 1013a. zurück z. Text
[22] Met. 2, 1013b. zurück z. Text
[23] Phys. II 3, 194b. zurück z. Text
[24] Phys. II 7, 198a. zurück z. Text
[25] De gen. an. I 1, 715a. zurück z. Text
[26] Met. 1, 1042a. zurück z. Text
[27] Met. 8, 1050a. zurück z. Text
[28] Met. 2, 1043a. zurück z. Text
[29] De an. II 1, 412a. zurück z. Text
[30] Wuketits, F. M.: Biologische Erkenntnis: Grundlagen und Probleme. Stuttgart 1983, S. 242. zurück z. Text
[31] An. post. I 27, 87a. zurück z. Text
[32] Weizsäcker, C. F. v.: Die Tragweite der Wissenschaft. Stuttgart, 1964, S. 423. zurück z. Text
[33] Met. 3, 1027a. zurück z. Text
[34] Weizsäcker, C. F. v.: Das Experiment. Studium generale 1 (1947), 9 zurück z. Text

 

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