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Mit Goethe und Aristoteles   
zurück zur Vernunft

 

  Das Buchprojekt
"Mit Goethe und Aristoteles zurück zur Vernunft"


Teil IV   Wegweisungen zu einer ganzheitlichen Naturwissenschaft

J. W. v. Goethe
Aristoteles
 
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Das Wichtigste von allem:
„Die Worte in Ordnung bringen“


A   Vorgeschichte einer Geisteskrankheit

B   Der Rat des Konfuzius

C   Der Fundamentalismus der modernen Naturwissenschaft

D   Im Bannkreis des wissenschaftlichen Materialismus

E   Das Wichtigste von allem: »Die Worte in Ordnung bringen «

F   Anmerkungen







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A. Vorgeschichte einer Geisteskrankheit

     Vor einiger Zeit erschien ein Buch des Kulturphilosophen Arthur Koestler mit dem Titel »Der Mensch - Irrläufer der Evolution«1. Im Klappentext des Buches heißt es:
  „Ausgangspunkt der Untersuchung ist die unbestreitbare Tatsache, dass der Mensch die Fähigkeit und die Neigung zur Selbstzerstörung besitzt, nicht nur als Individuum, sondern auch als Kollektiv. Seine gleichfalls unbestrittenen Leistungen können die Folgen seines zerstörerischen Handelns keineswegs aufwiegen. Ist der Mensch Schöpfer und Zerstörer zugleich, gleichsam ein Irrläufer der Evolution, zum Untergang verurteilt?
   Im Angesicht der anscheinend unaufhaltsamen, existentiellen Bedrohungen, denen die Menschheit von heute gegenübersteht, lohnt es sich, darüber nachzudenken, ob der Mensch als ein Irrläufer der Evolution angesehen werden kann. Dieser Gedanke soll als Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen dienen.
   Das Wort »Evolution«, wenn es sich auf den Menschen bezieht, ist mehrdeutig. Der Mensch ist das Ergebnis dreier Evolutionen: einer biologischen, einer neuropsychischen und einer geistigen Evolution. Den im folgenden beschriebenen drei Evolutionen ist gemeinsam, dass sie einen Lernprozeß repräsentieren und nach dem Prinzip von »Versuch und Irrtum« funktionieren, wobei für das Überleben untaugliche Varianten ständig aus dem Prozeß ausgeschieden werden.
   Die Erzeugende alles Lebens, von den primitivsten bis zu den höchstentwickelten Lebewesen, ist die biologische Evolution. Einfache Organismen einschließlich der Pflanzen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie während ihres individuellen Lebens keine eigenen Erfahrungen gewinnen können; ihre gesamte Erfahrung ist jeweils in dem durch die Evolution entstandenen genetischen Programm festgeschrieben, welches die Erfahrungen aller Vorgängerorganismen enthält.
   Bei den Tieren fand eine zweite Evolution statt, welche die biologische Evolution überlagerte und deren Weiterentwicklung entscheidend mitbestimmte: die neuropsychische Evolution. Das Tier ist in der Lage, im Laufe seines Lebens mittels seiner Sinne die Umgebung auf eine ihm gemäße Weise zu erfahren, diese Erfahrungen in einem zentralen Nervensystem zu speichern und zu sammeln. Bei primitiven Tieren wie Schwämmen und Würmern besteht dieses System aus wenigen, miteinander vernetzten Nervenzellen, bei höheren Tieren und beim Menschen geht die Anzahl dieser Zellen in die Milliarden. Diese zweite Evolution ermöglicht den Tieren gemachte Erfahrungen zu verwerten und bringt damit einen neuen Freiheitsgrad in ihr Verhalten: Eine durch das zentrale Nervensystem gesteuerte Bewegung hin zu attraktiven Nahrungsquellen und weg von erkannten Feinden oder Gefahren. Die gesamten Erfahrungen, die ein Tier im Laufe seines Lebens gemacht hat, gehen mit seinem Tod verloren; das Verhalten der Mitglieder einer Tierspezies bleibt daher über Jahrtausende konstant.
   Für den Übergang vom Tiersein zum Menschsein ist eine dritte Evolution verantwortlich, die einen zusätzlichen Freiheitsgrad für den Menschen zur Folge hatte: die Bewahrung der in einem Menschenleben gemachten Erfahrungen über den individuellen Tod hinaus. Diese dritte, geistige Evolution überlagert wiederum die zwei vorhergehenden Evolutionen, unterscheidet sich von diesen jedoch vollkommen; sie ermöglicht es dem menschlichen Individuum, die im Laufe des Lebens gesammelten Erfahrungen seinen Mitmenschen und der Nachwelt durch Sprache und im weiteren Verlauf der Menschheitsgeschichte durch Schrift zu verstehen zu geben und zu übereignen.
     Drei Evolutionen führten zur Menschwerdung: die biologische, die neuropsychische und die geistige Evolution. Als Ursache für das angesprochene selbstzerstörerische Verhalten des Menschen scheiden die ersten beiden Evolutionen aus, da dieses Verhalten bei Tieren bis hinauf zu den unmittelbaren Vorfahren des Menschen nicht beobachtet wird. Das häufig vorgebrachte Argument, dass die Neigung zur Selbstzerstörung ihre Ursache in der menschlichen Selbstsucht hat, kann nicht stichhaltig sein, denn diese Eigenschaft hat sich seit der Frühzeit des Menschengeschlechts nicht geändert. Die einzige noch mögliche Folgerung ist: von den drei Evolutionen ist es die geistige Evolution, die in die Irre gelaufen und für das selbstzerstörerische Verhalten des heutigen Menschen verantwortlich ist.
     Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen und ein einzelnes Element der geistigen Evolution identifizieren, welches die eigentliche Ursache für das existenzbedrohende Verhalten des Menschen ist. Aristoteles hat den Geist, der den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet, in zwei Kategorien unterteilt: die an den Körper gebundene und daher vergängliche Geistseele, die er auch als „leidensfähigen Geist“ bezeichnete, und den vom Körper „abgetrennten Geist“, der leidenslos und unvergänglich ist; mit letzterem meinte er die durch Sprache und Schrift überlieferten Erfahrungen und Erkenntnisse der Vorfahren und Mitmenschen. Nun wird aber die Geistseele des werdenden Menschen, die Aristoteles mit einer leeren Schreibtafel vergleicht, die beschrieben werden muss2, erst dann denkend und vernünftig, wenn in sie von außen der „abgetrennte Geist“, d. h. die Überlieferung einbricht3. Wenn dieses „Einbrechen“ der Überlieferung durch besondere Umstände nicht erfolgen kann, bleibt die äußerlich als Mensch erscheinende Kreatur ihrem Wesen nach ein Tier, da ja erst die „beschriebene“ Geistseele den Menschen zum Menschen macht. Es muss daher eine bestimmte Art der Überlieferung sein, aus welcher das widernatürliche und unvernünftige Verhalten des modernen Menschen genährt wird.
    Nun besteht die Überlieferung aus einer Unzahl von verschiedenen Erfahrungen, Meinungen, Erkenntnissen, Weisheiten und Irrtümern und jede Zeit nimmt sich aus dieser unübersehbaren Fülle diejenigen Teile heraus, durch die sie sich in ihrem „Zeitgeist“ bestätigt fühlt. Der Zeitgeist repräsentiert somit einen ausgewählten und geistig wiederbelebten Teil der Gesamtüberlieferung. Wenn durch den Zeitgeist ein überlieferter Irrtum massenweise verbreitet und in der Folge nicht ebenso massenwirksam korrigiert wird, breitet sich dieser Irrtum in den betroffenen Gesellschaften wie eine hochansteckende Krankheit aus.
    Goethe kommt das historische Verdienst zu, als erster einen fundamentalen Irrtum entdeckt zu haben, der die geistige Verfassung unseres modernen Zeitalters entscheidend mitbestimmt hat. Der Verursacher dieses Irrtums war der Begründer der modernen Naturwissenschaft Isaac Newton. Goethe hat den „Newtonischen Irrtum“, der besagt, dass „alles nur dann existiere, wenn es sich mathematisch beweisen läßt4“, mit seiner Farbenlehre leidenschaftlich bekämpft und versucht, diesen Irrtum „ein für allemal aus der Welt zu schaffen5.“ Heute wissen wir, dass dieser Versuch vergeblich war. In einem Gespräch mit seinem Vertrauten Eckermann hat er die Multiplikatoren genannt, die für die Verbreitung solcher gravierender Irrtümer verantwortlich sind:
 
„In Zeitungen und Enzyklopädien, auf Schulen und Universitäten, überall ist der Irrtum obenauf, und es ist ihm wohl und behaglich im Gefühl der Majorität, die auf seiner Seite steht6“.

    Die einseitige Denkweise der von Newton begründeten Naturwissenschaft bezeichnet Goethe als „Muster eigensinniger Verirrung des menschlichen Geistes7“ und in einem von Eckermann festgehaltenen Gespräch mit dem Philosophen Hegel geht Goethe noch einen Schritt weiter und spricht von einer Geisteskrankheit, die aufkommt, wenn man „beim Studium der Natur“ nicht „durchaus rein und ehrlich bei Beobachtung und Behandlung seines Gegenstandes verfährt8“.
    Die von der modernen Naturwissenschaft ausgehende Denkweise ist in der Folgezeit wiederholt mit einer Geisteskrankheit verglichen worden. Erwin Chargaff, der selbst auf naturwissenschaftlichem Gebiet Hervorragendes geleistet hat, faßte seine Wissenschaftskritik in die Worte:
 
„Früher mögen die Wissenschaftler dazu gedient haben, die Menschheit auf bessere Gedanken zu bringen, aber jetzt sind sie selbst der böse Gedanke geworden. Unsere Art von Wissenschaft hat sich in eine Krankheit des westlichen Geistes verwandelt9“.
   Eine Geisteskrankheit in reiner Form, um die es sich hier handelt, ist ein Gebrechen ganz eigener Art, da primär weder der Körper noch das Nervensystem, sondern ausschließlich der Geist des Menschen davon betroffen ist; um dieses Gebrechen an seiner Wurzel und nicht nur an seinen vielfältigen Symptomen zu therapieren, helfen weder Medikamente noch Physio- oder Psychotherapien, es bedarf dazu eines geistigen Korrektivs.
 
B. Der Rat des Konfuzius

    Bei der Frage, welcher Art das geistige Korrektiv zur Therapierung der genannten Geisteskrankheit sein müßte, können wir, wie so oft bei schwer durchschaubaren Zusammenhängen, die Antwort bei einem großen Weltweisen finden. Der chinesische Philosoph und Sittenlehrer Konfuzius (551 - 479 v. Chr.) wurde einmal gefragt, was er als erstes täte, wenn man ihm die Regierung des Landes übertragen würde. Seine Antwort war:
  „Wenn die Worte nicht stimmen, dann ist das, was gesagt wird, nicht das Gemeinte.
Wenn das, was gesagt wird, nicht das Gemeinte ist, dann sind auch die Taten nicht in Ordnung.
Sind die Taten nicht in Ordnung, so verderben die Sitten.
Verderben die Sitten, so wird die Justiz überfordert.
Wird die Justiz überfordert, so weiß das Volk nicht, wohin es sich wenden soll.
Deshalb achte man darauf, dass die Worte stimmen.
Das ist das Wichtigste von allem.“10

    Die Antwort des Konfuzius war an den Regenten eines Gemeinwesens gerichtet, dem damals die höchste geistige Autorität zufiel. Wenn die Antwort auf die heutige Zeit angewendet werden soll, ist zu bedenken, dass diese höchste geistige Autorität seit damals immer mehr von den Regierungen auf andere Institutionen übergegangen ist: im Mittelalter auf die christliche Kirche und in der Neuzeit auf die moderne Naturwissenschaft, die ja das geistige Fundament geliefert hat, auf dem unser modernes wissenschaftliches Zeitalter errichtet wurde. Wenn man die Forderung des Konfuzius heute ernst nehmen will, so muss in erster Linie die moderne Naturwissenschaft befragt werden, ob ihre Worte in Ordnung sind, und erst in zweiter Hinsicht die Politik und Wirtschaft, die sich geistig gesehen im Schlepptau dieser Wissenschaft befinden.
    Es ist nicht einfach, die von der modernen Naturwissenschaft hervorgerufene Unordnung der Worte verständlich zu machen. Die unzutreffenden Worte sind Teil einer von der Wissenschaft ausgehenden Denkweise, deren Vernunftwidrigkeit von der Gesellschaft gar nicht mehr wahrgenommen wird, da sich diese Art zu denken auf Grund der von der Wissenschaft erzielten großartigen Erfolge auch in der Gesellschaft ausgebreitet hat. Die Absurdität dieser Denkweise soll durch das folgende drastische Beispiel, welches zwangsläufig diese Absurdität widerspiegelt, plausibel gemacht werden.
    Nehmen wir an, ich beabsichtige als Wissenschaftler die Gestaltungsprinzipien eines auf einem Fundament errichteten mehrstöckigen Hauses aufzufinden, und gehe dabei auf folgende Weise vor. Als erstes erforsche ich die Gestaltungsgesetze für das Fundament des Hauses, da es sich erwiesen hat, dass diese Gesetze am einfachsten aufzufinden sind. Aus der Tatsache, dass die oberirdischen Stockwerke des Hauses auf dem Fundament errichtet sind und ohne dieses nicht existieren würden, und in der festen Überzeugung, dass es nur eine Kategorie von Gestaltungsgesetzen geben kann, schließe ich, dass es für die oberirdischen Teile des Hauses keine eigenen Gestaltungsgesetze gibt bzw. dass sich diese aus den Gestaltungsgesetzen des Fundamentes ableiten lassen. Auf Grund dieser Schlußfolgerung fühle ich mich berechtigt, das Fundament des Hauses, dessen Gesetzmäßigkeiten ich kenne, nicht als einen Teil, sondern als das Ganze des Hauses anzusehen und belege es dementsprechend mit dem Wort „Haus“; die Erkenntnisse, die ich über das „Haus“ gewonnen habe, bezeichnet ich dann logischerweise als „Wissenschaft vom Haus“.
    Das angeführte Beispiel läßt vermuten, dass der falsche Wortgebrauch der modernen Naturwissenschaft bei dem Namen, den sie sich selbst zugelegt hat, seinen Anfang nimmt. Dieser Name besteht aus den zwei Worten: „modern“ und „Naturwissenschaft“. Das Attribut „modern“ charakterisiert eine außergewöhnliche und bis dahin einzigartige Eigenschaft dieser von Newton begründeten Wissenschaft. Die Physiker hatten schon vor Newton sehr weitreichende Gesetze aufgefunden, z. B. gelten das Fallgesetz und das Pendelgesetz von Galilei überall auf der Erde und die Keplerschen Gesetze für die Planetenbewegung überall im Sonnensystem. Jedoch hat Newton mit den nach ihm benannten Gesetzen der Mechanik erstmals in der Menschheitsgeschichte Gesetze formuliert, denen eine universelle Gültigkeit in Raum und Zeit zukommt. Mit Hilfe dieser Gesetze konnten Vorhersagen von Ereignissen gemacht werden nicht nur für die Zukunft, sondern auch für die Vergangenheit (z. B. Sonnen- und Mondfinsternisse, Kometenerscheinungen), sowie für Räume, in die noch niemals ein Mensch vorgedrungen ist (z. B. Lokalisation des bis dahin unbekannten Planeten Uranus durch Bahnabweichungen des Neptun). Gemäß dem Credo des Aristoteles, dass man Wissen im strengen Sinne nur dann besitzt, wenn man Rechenschaft über die Ursachen und Prinzipien geben kann11, ist die Newtonsche Wissenschaft eine „Wissenschaft im strengen Sinne", da sie die von ihr untersuchten Phänomene aus Prinzipien zu erklären und abzuleiten vermag; die Charakterisierung dieser herausragenden Eigenschaft durch das Attribut „modern“ ist daher nicht zu beanstanden.
    Zu einem ganz anderen Urteil kommt man bei dem zweiten Wort „Naturwissenschaft“. Die moderne Naturwissenschaft versteht sich ja nicht als eine Einzelwissenschaft in der Gemeinschaft der Naturwissenschaften, sondern als die einzig richtungweisende und verbindliche Naturwissenschaft. Sie glaubt zur Führung des Namens „Naturwissenschaft“ legitimiert zu sein, da sie alle Naturphänomene in ihre Erkenntnissuche einbezieht. Dies allein genügt aber nicht. Durch das Attribut „modern“ hat sich die moderne Naturwissenschaft den Anspruch auferlegt, eine Naturwissenschaft „im strengen Sinne zu sein“, was ja für sie die Verpflichtung einschließt, ihre Erkenntnissuche auf alle in der Natur obwaltenden Prinzipien auszurichten. Tatsächlich sucht die moderne Naturwissenschaft jedoch ausschließlich nach dem für die Materie geltenden Prinzip (sie verwendet dafür fälschlicherweise die Bezeichnung „Naturgesetz“). Da dieses Prinzip universelle Gültigkeit in Raum und Zeit besitzt und ihm ausnahmslos alle Naturdinge, seien sie leblos oder lebendig, unterliegen (z. B. Fallgesetz und Energieerhaltungssatz), zieht die Wissenschaft den Schluß, dass es zur Erklärung aller in der Natur vorkommenden Phänomene (z. B. des Lebendigseins) keiner weiteren Prinzipien bedarf. Dies ist jedoch ein verhängnisvoller Irrtum. Eine Naturwissenschaft im strengen Sinne muss in ihre Erkenntnissuche nicht nur alle in der Natur vorkommenden Untersuchungsgegenstände, sondern auch alle in der Natur obwaltenden Prinzipien einbeziehen, nicht allein das Prinzip für das Materielle, sondern auch übermaterielle Prinzipien, welche das Materielle überformen und in allen Lebewesen wirksam sind. Da die moderne Naturwissenschaft die Existenz übermaterieller Prinzipien bestreitet und somit außerstande ist, mit ihrer einseitigen Art der Erkenntnissuche das Naturphänomen des Lebendigseins zu erklären, ist sie nicht berechtigt, sich als „Naturwissenschaft“ zu bezeichnen.
   In dem obigen Haus-Beispiel wird genau dieser schwer durchschaubare Sachverhalt simuliert. Ersetzt man in dem Beispiel das Wort „Fundament“ durch „Materie“, „Haus“ durch „Natur“ und „Wissenschaft vom Haus“ durch „moderne Naturwissenschaft“, so ist der gravierende Wirklichkeitsverlust verdeutlicht, dem die moderne Naturwissenschaft erlegen ist. Die Eigengesetzlichkeiten der lebendigen Natur, im Beispiel symbolisiert durch die Gestaltungsgesetze für die oberen Stockwerke des Hauses, werden bei der wissenschaftlichen Erkenntnissuche einfach negiert. Aus dem Gesagten ist nur eine Folgerung möglich. Ebenso wie in dem Beispiel die Bezeichnung „Wissenschaft vom Haus“ ein Etikettenschwindel ist und durch die Bezeichnung „Wissenschaft vom Fundament“ ersetzt werden muss, so ist die Bezeichnung „moderne Naturwissenschaft“ eine Täuschung und das Wort „Naturwissenschaft“ muss durch das Wort „Materiewissenschaft“ ersetzt werden. Es versteht sich dann von selbst, dass diese Materiewissenschaft nicht ein Ganzes, sondern nur ein Teil sein kann: eine Einzelwissenschaft, die gleichberechtigt mit anderen Einzelwissenschaften erst das Ganze, eine ganzheitliche Naturwissenschaft im strengen Sinne ausmacht. Die Grundlagen für eine solche ganzheitliche Wissenschaft wurden vor allem von Aristoteles und Goethe in ihren naturphilosophischen Schriften geschaffen.
     Die fälschliche Bezeichnung einer Materiewissenschaft als Naturwissenschaft und damit einhergehend die Gleichsetzung von Materie und Natur hat zu einer unbeschreiblichen geistigen Verwirrung in Wissenschaft und Gesellschaft geführt. Eine „Naturwissenschaft“, die blind ist für die Phänomene der lebendigen Natur, welche die Existenz von eigenen Prinzipien für das Lebendigsein und Menschsein bestreitet und diese Prinzipien aus ihrer Erkenntnissuche ausgespart hat, kann die existentiellen Probleme nicht lösen helfen, denen der moderne Mensch gegenübersteht, sie ist als Verursacherin selbst das Problem.

 
C. Der Fundamentalismus der modernen Naturwissenschaft

    Der Fundamentalismus hat seine Heimstatt keinesfalls nur in Religion und Politik. Er tritt auch dort auf, wo er am wenigsten vermutet wird: in der Wissenschaft, die ja gemeinhin als Tempel der Wahrheit gilt. Dennoch: Die Denkweise der modernen Naturwissenschaft hat unverkennbar fundamentalistische Züge.
  Die markantesten Eigenschaften fundamentalistischen Denkens sind Einfachheit und Einseitigkeit. Ein Teil des Ganzen wird aus dem Gesamtzusammenhang herausgelöst und als Ganzes deklariert, mit anderen Worten: Es wird ein Grundprinzip postuliert, von dem sich alles ableiten lassen soll.
 Des weiteren gehört zum fundamentalistischen Denken ein Absolutheitsanspruch. Jede Interpretationsweise, die nicht vom postulierten Grundprinzip der reinen Lehre ausgeht, wird als Irrlehre denunziert und bekämpft.
Mit dem Absolutheitsanspruch im Denken ist ein Machtanspruch im Handeln verbunden. Im Mittelalter wurden die Verfechter einer Irrlehre als Ketzer bezeichnet und oftmals physisch vernichtet, heute begnügt man sich damit, jedenfalls auf dem Gebiet der Wissenschaft, die Abweichler von der reinen Lehre geistig auszuschalten und ihre Werke totzuschweigen.
    Alle drei Merkmale für einen Fundamentalismus treffen auf die moderne Naturwissenschaft zu.
    Geistiger Vorbereiter des wissenschaftlichen Fundamentalismus war Francis Bacon (1561 - 1626). Bacon war Generalstaatsanwalt des englischen Königs James I. und übertrug die im Gerichtssaal verwendeten Metaphern auch auf seine wissenschaftlichen Schriften. Als Ziel aller Wissenschaft wurde von ihm die Unterwerfung der Natur unter die Macht des Menschen definiert. In der von ihm verwendeten gewalttätige Sprache heißt es, man solle „die Natur mit Hunden hetzen“, „sie sich gefügig und zur Sklavin machen“ und „auf die Folter zu spannen, bis sie ihre Geheimnisse preisgibt“12.
    Seit der Antike war es Ziel der Naturwissenschaft, Wissen über die Natur zu erlangen, um die natürliche Ordnung zu verstehen und in Harmonie mit der Natur zu leben (Orientierungswissen); die Natur wurde als gütige Nährmutter begriffen. Seit Bacon veränderte sich diese Einstellung grundlegend; das Ziel der Naturwissenschaft ist von nun an Erkenntnisgewinn, um die Natur kontrollieren und beherrschen zu können (Herrschaftswissen). Der durch die Parole „Wissen ist Macht“ gekennzeichnete „Geist von Bacon“ hat bis heute einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft und Technologie.
    Die Herrschaft des Menschen über die Natur war zur Zeit Bacons noch Wunschdenken. Die Realisierung dieses Wunsches ist der wissenschaftlichen Revolution zu verdanken, die mit den Namen Descartes, Galilei und Newton verbunden ist.


René Descartes (1596 - 1650) forderte die Wissenschaftler auf, Gedanken und Probleme, die sich als Ganzes einer Bearbeitung entziehen, in Teile zu zerlegen und die Teile zu untersuchen (Analyse)13 ;
Galileo Galilei (1564 - 1642) forderte dazu auf, zu messen, was man messen könne, und meßbar zu machen, was man noch nicht messen könne (Meßbarkeit) 14;
Isaac Newton (1643 - 1727) als Vollender der wissenschaftlichen Revolution stellte die Forderung auf, die verborgenen Qualitäten beiseite zu lassen und die Natur auf mathematische Gesetze zurückzuführen (Mathematisierung)15 .

    Die Forderungen der drei Männer an die neue Wissenschaft nach Analyse, Meßbarkeit und Mathematisierung der in der Natur vorgefundenen Phänomene wurden zu den drei methodischen Grundaxiomen der modernen Naturwissenschaft erhoben. Da die einseitige Anwendung der Analyse immer auf materielle Phänomene führt, die sich quantifizieren und mathematisch beschreiben lassen, folgerten die Wissenschaftler, dass es in der Natur nur materielle Phänomene gibt und alles in der Natur Existierende auf ein einziges, für die Materie gültiges Prinzip zurückgeführt werden kann; sie gaben diesem Prinzip einen Namen und nannten es „Weltformel“, die Facetten dieses Prinzips nannten sie „Naturgesetze“. Für die moderne Naturwissenschaft ist jede Wissenschaft, die von der Existenz eines übermateriellen Lebensprinzips ausgeht, eine Irrlehre und keine Wissenschaft. Aus dem methodischen Fundamentalismus war schließlich ein weltanschaulicher Fundamentalismus geworden: der wissenschaftliche Materialismus der modernen Naturwissenschaft.
     Die Bekenntnisse berühmter und hochgeehrter Geistesgrößen zum wissenschaftlichen Materialismus sind Legion, unter ihnen finden sich nicht nur Naturwissenschaftler, sondern auch viele Philosophen und Geisteswissenschaftler. Hier nur eine kleine Auswahl:

Immanuel Kant, Philosoph (In jeder Naturlehre ist nur so viel eigentliche Wissenschaft, als darin Mathematik anzutreffen ist16).
Carl Friedrich von Weizsäcker, Philosoph (In der Biologie kann es keine Gesetze geben, die über jene der Physik hinausgehen).
Albert Einstein, Nobelpreisträger (Die Lebensvorgänge sind aus den Gesetzen der theoretischen Physik ableitbar).
Francis Crick, Nobelpreisträger (Die Biologie als ziemlich einfacher Nebenzweig der Physik).
Manfred Eigen, Nobelpreisträger (Die für die Entstehung des Lebens maßgeblichen Naturprinzipien gehen aus den Grundlagen der Physik und Chemie hervor 17).
Gerd Binnig, Nobelpreisträger (Die Materie hat inzwischen menschliche Züge bekommen 18).

     Die Wirklichkeitsferne des wissenschaftlichen Fundamentalismus läßt sich mit Hilfe der zwei einander ausschließenden Positionen verdeutlichen, mit denen der menschliche Geist der Natur gegenübertreten kann. Diese beiden Standpunkte lassen sich zuspitzen auf die Frage: „Hat sich die Natur dem menschlichen Denken anzupassen oder ist es umgekehrt?“; anders ausgedrückt: „Hat der menschliche Geist der Natur vor- oder nachzudenken?“
   Die erste Position kommt in Kants Aussage in den „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik“ zum Ausdruck: „Der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor19“. Diese Position offenbart eine Selbstüberhebung des menschlichen Geistes, der die Verbindung zur Natur, zu seinem Ursprung, vollkommen verloren hat.
Die zweite Position vertritt Goethe in der „Metamorphose der Tiere“: „Freue dich, höchstes Geschöpf der Natur, du fühlest dich fähig ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang, nachzudenken20“. Die Goethesche Position läßt eine Selbstbescheidung menschlichen Denkens erkennen, das sich im Einklang mit der Natur befindet.

   Goethe hat den Fundamentalismus Newtons und seiner Apologeten treffend charakterisiert, indem er Newton die Worte in den Mund legt:
 
„Greift die Sache an wie ich;   geht auf meinem Wege;  richtet alles ein wie ich́ s eingerichtet habe; seht wie ich, schließt wie ich, und so werdet ihr finden, was ich gefunden habe: alles andere ist von Übel21“.
   Der Naturwissenschaftler Goethe war auch der erste, der dem Fundamentalismus der von Newton begründeten „Naturwissenschaft“ die Stirn geboten hat und daraufhin von dieser Wissenschaft regelrecht verketzert wurde. Die Worte, mit denen er seine Situation wiedergegeben hat, lassen an Deutlichkeit und Bitterkeit nichts zu wünschen übrig:
"Es ist nicht schwer, seinen (Newtons) Irrtum zu entdecken, aber es ist schwer, ihn zu entwickeln, denn dieses ist noch keinem seiner Gegner gelungen, vielleicht gelingt es auch mir nicht; indessen werde ich mein Möglichstes tun, dass, wenn auch ich noch als Ketzer verdammt werden sollte, wenigstens ein glücklicherer Nachfolger eine brauchbare Vorarbeit finde22".
„Kein aristokratischer Dünkel hat jemals mit solchem unerträglichen Übermute auf diejenigen herabgesehen, die nicht zu seiner Gilde gehörten, als die Newtonische Schule von jeher über alles abgesprochen hat, was vor ihr geleistet war und neben ihr geleistet ward23“.
„Es wird aber in den Wissenschaften auch zugleich dasjenige als Eigentum angesehen, was man auf Akademien überliefert erhalten und gelernt hat. Kommt nun einer, der etwas Neues bringt, das mit unserm Credo, das wir seit Jahren nachbeten und wiederum anderen überliefern, in Widerspruch steht und es wohl gar zu stürzen droht, so regt man alle Leidenschaften gegen ihn auf, und sucht ihn auf alle Weise zu unterdrücken. Man sträubt sich dagegen, wie man nur kann; man tut, als höre man nicht, als verstände man nicht; man spricht darüber mit Geringschätzung, als wäre es gar nicht der Mühe wert, es nur anzusehen und zu untersuchen; und so kann eine neue Wahrheit lange warten, bis sie sich Bahn macht. [...] Die mathematische Gilde hat meinen Namen in der Wissenschaft so verdächtig zu machen versucht, dass man sich scheut, ihn nur zu nennen24“.

     Daß Goethe von der von ihm befehdeten Wissenschaft bekämpft wurde, ist nicht weiter verwunderlich. Daß aber von „Goetheforschern“ des Goethe-Nationalmuseums in Weimar, an einem Ort, der angeblich Goethesches Gedankengut aus erster Quelle den Besuchern vermitteln soll, Goethe die Qualifikation als Naturwissenschaftler und Farbenlehrer abgesprochen wurde und diese Einschätzung den Museumsbesuchern offeriert und damit weltweit kolportiert wird, ist ein kultureller Skandal ersten Ranges. Im Führer durch die im Goethejahr 1999 neueröffnete Dauerausstellung "Wiederholte Spiegelungen. Weimarer Klassik 1759 - 1832" wird die Farbenlehre als Goethes "lebenslanger Spleen" bezeichnet. Dieses Urteil diffamiert genau jenes Werk, welches Goethe als seine größte Lebensleistung betrachtet hat und mit welchem er dem wissenschaftlichen Fundamentalismus der von Newton begründeten Wissenschaft entgegengetreten ist.
 
D. Im Bannkreis des wissenschaftlichen Materialismus

    In der Wissenschaft besteht seit jeher das Bestreben, die Welt als Einheit zu sehen und aus einem einzigen Prinzip zu erklären, und die moderne Naturwissenschaft scheint die damit verbundene Hoffnung zu bestätigen. Zum geistigen Fundament dieser Wissenschaft gehört das Grundaxiom der Analysierbarkeit aller natürlichen Phänomene und sie übersieht bei der Anwendung dieses Axioms auf ganzheitliche Phänomene (Lebensphänomene), dass durch die Analyse (faktisch oder gedanklich) die durch das Ganze gesicherte Zusammengehörigkeit der Teile zerstört wird und dieser Zusammenhang durch das Zusammenfügen der Teile nicht wiederhergestellt werden kann, da das „Mehr“, welches das Ganze von der Summe seiner Teile unterscheidet, verloren gegangen ist; d. h. die Anwendung des Axioms führt immer wieder auf materielle Phänomene. Mit jedem Experiment und jeder theoretischen Deutung von Experimenten wird das Postulat verifiziert, dass die Wirklichkeit ausschließlich materieller Natur ist und alle natürlichen Phänomene aus einem einzigen, für die Materie gültigen Prinzip erklärt werden können. Aus der „Einheit der Wirklichkeit“, welche die Wissenschaft für erwiesen hält, folgt dann zusammen mit einer vorausgesetzten „Einheit der Erkenntnis“ die „Einheit der Wissenschaft“. Die „Einheit der Wissenschaft“ findet ihre Entsprechung in dem in sich geschlossenen materialistischen Weltbild, welches die moderne Naturwissenschaft zu besitzen vorgibt.
    Solange man das Grundaxiom der Analysierbarkeit anerkennt, gibt es keine Möglichkeit, aus dem materialistischen Weltbild auszubrechen. Um den Eindruck der Abgeschlossenheit dieses Weltbilds aufrecht erhalten zu können, war in der modernen Naturwissenschaft kein Platz mehr für Worte wie „Wesen“, „Seele“, „übermateriell“ - andere Worte wie „Wert“, „Leben“, „ganzheitlich“, „objektiv“, „Wissen“ wurden in ihrer herkömmlichen Bedeutung geändert oder relativiert, um für die Wissenschaft akzeptabel zu sein.
„Wert“. Die „Wertfreiheit“, auf welche die moderne Naturwissenschaft so stolz ist, kann von ihr nicht absolut gemeint sein. Denn natürlich hantiert sie mit Werten. Beispielsweise kommt in jedem von ihr entdeckten „Naturgesetz“ eine „Naturkonstante“ vor, die, bezogen auf eine definierte Maßeinheit, einen bestimmten Zahlenwert hat. Da die moderne Wissenschaft von der Materie als einziger Existenzform ausgeht und nach den Erhaltungssätzen der Physik Materie unzerstörbar und ewig ist und sich aus etwas Unzerstörbarem und Ewigem keine immateriellen oder ideellen Werte begründen lassen, sind mit „Wertfreiheit“ immaterielle oder ideelle Werte gemeint, die sich nicht „objektivieren“ lassen und deswegen von der Wissenschaft der menschlichen Einbildung zurechnet und nicht als Erkenntnisgegenstand angesehen werden.
„Leben“. Zur Erklärung von „Leben“ hält die moderne Wissenschaft das Materieprinzip für ausreichend, die Annahme besonderer übermaterieller Gestaltungsprinzipien sind für sie nicht notwendig. Ein Lebewesen unterscheidet sich von einem toten Ding nicht prinzipiell, sondern nur durch einen höheren Komplexitätsgrad.
    Nun verfügt aber jeder Mensch, auch jeder Naturwissenschaftler, intuitiv über eine Vorstellung was Leben ist und wird die simple materialistische Erklärungsweise als unbefriedigend empfinden. Deshalb verfolgt die Wissenschaft auch hier wieder eine Strategie, die sich bereits bei anderen Spielarten fundamentalistischen Denkens bewährt hat: das Wegdiskutieren von Phänomenen, die sie nicht erklären kann. Im Index von modernen naturwissenschaftlichen oder biologischen Lehrbüchern sucht man das Stichwort „Leben“ meist vergeblich, im Text wird Frage „Was ist Leben?“ erst gar nicht gestellt, oder, wenn diese Frage doch angeschnitten wird, dann mit dem Hinweis, dass die Naturwissenschaft diese Frage nicht beantworten kann und sie demzufolge gar nicht erst gestellt werden sollte. In seinem Buch „Perspektiven der Wissenschaft. Jenseits von Ideologien und Wunschdenken“ schreibt der Nobelpreisträger Manfred Eigen beispielsweise: „Was ist Leben“ ist keine „gute Frage“. „Sie ist viel zu allgemein25“. Stattdessen sollte man fragen „Welches sind die Eigenschaften lebender Systeme“.
„ganzheitlich“. Bei Aristoteles wird erstmalig der Begriff "Ganzheit" (holon) deutlich von dem Begriff der bloßen Gesamtheit (pantes) unterschieden, wobei sich die Ganzheit dadurch definiert, dass sie „mehr als die Summe ihrer Teile“ ist. Das Phänomen der Ganzheit tritt bei allen Lebewesen auf, denn beim Übergang vom Ganzen zu den Teilen geht etwas verloren (eben das "Mehr"), was beim Wiederzusammenfügen der Teile nicht wieder gewonnen werden kann. Indes ist bis heute strittig, woraus das „Mehr“ besteht, welches das Ganze (etwas Lebendiges) von der Summe der Teile (etwas Totes) unterscheidet.
    Die moderne Naturwissenschaft hat sich immer wieder mit den Vorwurf auseinandersetzen müssen, dass ihre Denkweise nicht „ganzheitlich“ sei, und sie ist mit diesem Vorwurf zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich umgegangen. Da sie dem Übermateriellen die Realität abspricht und im Bereich der materiellen Phänomene die Frage der Ganzheitlichkeit nicht auftritt, bestritt sie auch lange Zeit die Existenz von ganzheitlichen Phänomenen. Seit die Physik den Bereich der grobmaterialistischen Phänomene der klassischen Physik überschritten hat und durch immer feinere Analyse zunächst zu den atomaren und dann zu den subatomaren Phänomenen vordringen konnte, ist hier ein Wandel eingetreten. Zunächst glaubte man, in der Quantentheorie ganzheitliche Aspekte aufgefunden zu haben, man sprach vom „Holismus der Quantentheorie26“. Später gelangte man in der Physik durch Verallgemeinerungen der Quanten- und Relativitätstheorie zu immer abstrakteren Theorien; ein Beispiel ist die sogenannte bootstrap- oder "Schnürsenkel"-Theorie, die eine rein mathematische Welt beschreibt und keinerlei Bezug mehr zur menschlichen Anschauung besitzt. Anhänger der Theorie glauben genau in dieser Welt, in der alles mit allem zusammenhängt und in der es keine Teile mehr gibt, das Phänomen der Ganzheitlichkeit wiederentdeckt zu haben27.
„objektiv“. Die Allgemeingültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis wird nach Ansicht der modernen Naturwissenschaft nur gewährleistet durch den Ausschluß des menschlichen Beobachters, durch Unabhängigkeit von dessen subjektiven Meinen und Für-wahr-Halten. Danach ist nur das objektiv existierend, was meßbar und berechenbar ist.
„Wissen“. Die moderne Naturwissenschaft ist dem Geist von Bacon und der Devise „Wissen ist Macht“ verpflichtet; Wissen wird interpretiert als Herrschaftswissen und dieses Wissen wird dann dazu genutzt, Macht über die Natur und andere Menschen, die dieses Wissen nicht besitzen, auszuüben. Aus der Erkenntnissuche werden übermaterielle Prinzipien und damit auch Probleme des Lebendigseins und des Menschseins ausgeschlossen, die existentielle Problematik des Menschen ist somit kein Gegenstand wissenschaftlichen Interesses. Der Zusammenhang zwischen Wissen und Gewissen, zwischen Naturwissenschaft und Ethik ist für sie ein Thema, für welches sie sich nicht zuständig fühlt. Für die Folgen, die sich aus der Anwendung des von ihr hervorgebrachten Wissens ergeben, fühlt sie sich demzufolge nicht verantwortlich und überträgt die Verantwortung an Politik und Gesellschaft

 
E. Das Wichtigste von allem: »Die Worte in Ordnung bringen«

     Worte sind die Bausteine der Sprache. Das Wort ist die äußere Form, der Begriff ist der Inhalt des Wortes, d. h. das, was wir meinen, wenn wir das Wort gebrauchen. Aus Worten bilden wir Sätze, mit Worten bringen wir unsere Gedanken zum Ausdruck, mit Worten verständigen wir uns. Das Operieren mit Worten ermöglicht erst die Vernunft, vorausgesetzt die Worte sind in Ordnung. Die Worte sind in Ordnung, wenn ihr Sinn die Wirklichkeit widerspiegelt, sie sind nicht in Ordnung, wenn ihr Sinn vom Menschen in selbstherrlicher Weise in die Wirklichkeit hinein interpretiert wird. Unrichtige Worte vermögen den Geist des Menschen zu täuschen und zu verwirren. Wenn die Worte nicht stimmen, ist dem Irrtum und der Unvernunft Tür und Tor geöffnet und dies wiederum hat verheerende Auswirkungen auf den Geisteszustand der betroffenen menschlichen Gemeinwesen. Daher ist die Mahnung des Konfuzius ernst zu nehmen, dass die Stimmigkeit der Worte das Wichtigste von allem ist.
     Auf unser wissenschaftliches Zeitalter bezogen richtet sich die Mahnung des Konfuzius vor allem an die Adresse der modernen Naturwissenschaft, die dieses Zeitalter hervorgebracht hat. Die von ihr benutzten falschen Worte sind die wirksamsten Waffen aus dem Arsenal des wissenschaftlichen Fundamentalismus, sie sind gleichsam mit einer Tarnkappe versehen und dringen unbemerkt, wie geistige trojanische Pferde, in das Denken der Menschen ein. Haben sich die falschen Worte erst einmal im Denken festgesetzt, so sind damit die Abwehrkräfte gegen die Ambitionen der fundamentalistischen Wissenschaft gelähmt. Bereits bei der arglosen und unkritischen Benutzung des Wortes „Naturwissenschaft“ für die Newtonsche Wissenschaft befindet man sich in der Geiselhaft von deren fundamentalistischer Denkweise. Es sei hier nur angemerkt, dass selbst die katholische Kirche, die seit jeher einer wissenschaftlichen Erkenntnissuche skeptisch gegenüber steht, unbekümmert von moderner Naturwissenschaft, von den von dieser gefundenen Naturgesetzen, usw. spricht28.
      Goethe hat um diese Gefahr gewußt und die Bezeichnung "Naturwissenschaft" für die Newtonsche Wissenschaft nie verwendet, da er dies als ungerechtfertigte Anmaßung empfand, er verwendete dafür mehr oder weniger polemische Ausdrücke wie "Newtonische Schule", "mathematische Gilde", "herrschende Kirche", "neuere Physik". Aus dem vergeblichen Kampf Goethes gegen die Newtonsche Wissenschaft kann nur eine Lehre gezogen werden: Die Aberkennung des Namens "Naturwissenschaft" muss nicht nur implizit, sondern explizit geschehen durch die Benennung des wahren Wesens dieser Wissenschaft. Fazit: Die Bezeichnung „Naturwissenschaft“ muss ersetzt werden durch die Bezeichnung „Materiewissenschaft“. Daraus folgt zwangsläufig, dass die von dieser Materiewissenschaft aufgefundenen universellen Gesetze keine „Naturgesetze“, sondern „Materiegesetze“, und die in diesen Gesetzen enthaltenen Konstanten keine „Naturkonstanten“, sondern „Materiekonstanten“ sind.
     Außer den Wortzusammensetzungen, in denen „Natur“ gegen „Materie“ ausgetauscht werden muss, gibt es eine größere Anzahl von wichtigen Worten, die ebenfalls „in Ordnung gebracht“ werden müssen. Es sind dies Worte, welche die moderne Naturwissenschaft aus ihrem Sprachschatz ausgesondert hat, da sie damit nichts anzufangen weiß (Stichworte: Wesen, Seele, übermateriell, immaterielle Werte) und andere, die sie einseitig interpretiert oder denen sie ihre ursprüngliche Bedeutung genommen hat, um eine Umdeutung in ihrem Sinne vornehmen zu können (Stichworte: Leben, Information, ganzheitlich, objektiv, Wissen, Verantwortung)
„Wesen“. Seit Urzeiten gehört es zu den Erfahrungen des Menschen, dass es zwischen den in der Natur vorkommenden Dinge grundsätzliche Unterschiede gibt, und diese Erfahrungen wurden durch in Worte gefaßte Begriffe ausgedrückt. Aristoteles spricht vom „Wesen“ oder vom „Was-es-ist-dies-zu-sein“ eines Dinges: ist es ein lebloses Ding oder ein Lebewesen und, wenn es ein Lebewesen ist, ist es eine Pflanze, ein Tier oder ein Mensch? Die Wesensunterschiede zwischen den Dingen haben ihre Ursache in den unterschiedlichen Prinzipien, die den Dingen zugrunde liegen (siehe Stichwort „Seele“). - Die uralten Erfahrungen über die Wesensunterschiede der Naturdinge wurden vom Einheitswahn der modernen Naturwissenschaft weggewischt; da es für sie nur materielle Dinge gibt, ist das Wort „Wesen“ gegenstandslos geworden.
„Seele“. Aristoteles hat ein Formprinzip angenommen, das in Lebewesen wirksam ist, und dieses Prinzip „Seele“ genannt. Die Aristotelische Seele ist der menschlichen Erfahrung zugänglich und nicht durch eine unerforschliche überirdische Macht den Menschen zugeeignet worden; sie gehört daher dem Bereich der Wissenschaft und nicht dem der Mystik an. Die Seele ist vergleichbar einer Stufenleiter mit einer, zwei bzw. drei Stufen. In jedem Lebewesen ist eine Vitalseele wirksam, die jenem die Fähigkeit von Wachstum und Fortpflanzung verleiht. Bei den Tieren kommt zur Vitalseele eine sensitive oder Tierseele und beim Menschen außerdem eine Geist- oder Vernunftseele hinzu. Erst heute, nach mehr als zweitausend Jahren, kann eine genauere Identifikation der Seele und ihrer Teile gegeben werden: es sind Prinzipien für die Verarbeitung bzw. Erzeugung von Information, wobei der heute gängige und eingeengte Informationsbegriff einer Verallgemeinerung bedarf. - Für die moderne Naturwissenschaft ist die „Seele “ etwas Übernatürliches und hat daher in der Naturwissenschaft nichts zu suchen; sie geht bei dieser Schlußfolgerung vom Seelenbegriff der christlichen Kirche aus, den Seelenbegriff des Aristoteles hat sie bis heute nicht zur Kenntnis genommen.
„übermateriell“. Übermateriell ist nicht gleichbedeutend mit übernatürlich, wie von der modernen Naturwissenschaft unterstellt. Prinzipien für das Übermaterielle, von Aristoteles als Seele bezeichnet, haben sich zusammen mit dem Leben im Zuge der Evolution entwickelt.
„immaterielle Werte“. Die moderne Naturwissenschaft geht von der Materie als einziger Existenzform aus. Da Materie etwas vom Prinzip her Unzerstörbares und Ewiges ist, können von daher immaterielle oder ideelle Werte, wie z. B. der Wert des Lebens, nicht begründet werden. Dagegen hat für eine ganzheitliche Naturwissenschaft ein Phänomen wie „Leben“, dem Prinzipien zugrunde liegen, die entstehen und vergehen können, einen naturgegebenen Wert.
„Was ist Leben?“ Auf diese von der modernen Naturwissenschaft verdrängte Frage hat bereits Aristoteles eine mit der intuitiven Vorstellung eines jeden Menschen verträgliche Antwort gegeben: Leben ist die Wirksamkeit einer (übermateriellen) Seele in einem (materiellen) Körper.
„Information“. Das, was die moderne Naturwissenschaft unter „Information“ versteht, läßt sich durch die Informationstheorie von Shannon beschreiben und mit der Maßeinheit „bit“ quantifizieren. Dieser eingeengte und einseitige Informationsbegriff ist jedoch nur ein Spezialfall eines allgemeineren und umfassenderen Informationsbegriffs, wie er von Aristoteles in seiner Metaphysik (Formursache als Teil der Lehre von den vier Ursachen) und von Goethe in seiner Morphologie (Lehre von der Gestalt, der Bildung und Umbildung der organischen Körper) vorgedacht wurde. In beiden Fällen geht es um den Begriff des „In-Form-Seins“; bei Lebewesen ist darunter nicht nur die äußere Form, sondern auch die innere Form, das dem Ding gemäße Wesen zu verstehen.
„ganzheitlich“. Die moderne Naturwissenschaft, die ein Ganzes durch die Analyse seiner Teile zu verstehen sucht, ist bemüht, dem Phänomen der Ganzheitlichkeit im submateriellen Bereich beizukommen. Im Gegensatz dazu ist für eine ganzheitliche Naturwissenschaft, die dem Ganzen eigene Gesetzmäßigkeiten zuerkennt, die nicht aus den für die Teile geltenden Gesetzen abgeleitet werden können, das Phänomen der Ganzheitlichkeit nur im übermateriellen Bereich zu finden.
    Nicht immer, wenn aus der Verbindung von Teilen etwas Neues entsteht, ist dieses Neue eine Ganzheit im Sinne einer ganzheitlichen Naturwissenschaft. Wenn chemische Elemente eine Verbindung eingehen, so entsteht zwar etwas Neues mit neuen Eigenschaften, aber sowohl die Teile (Atome) als auch die Verbindung derselben (Moleküle) lassen sich mit Hilfe der Quantentheorie, d.h. einem für die Materie geltenden Prinzip verstehen; es entsteht daher bei einer chemischen Synthese nicht etwas prinzipiell Neues. Ganz anders liegen die Verhältnisse bei einem Lebewesen. Ein Lebewesen ist nicht eine Verbindung (Summe) seiner Teile, sondern eine Ganzheit, die mehr ist als die Summe der Teile. Dieses „Mehr“ wird repräsentiert durch ein für das Lebewesen gültiges Lebensprinzip, das einer anderen Kategorie angehört als das für die Materie gültige Prinzip.
    Eine Ganzheit läßt sich derart definieren, dass in ihr ein neues (höherrangiges) Prinzip wirksam wird, das für die von der Ganzheit abgetrennten Teile keine Wirksamkeit besitzt; umgekehrt hat aber das für die Teile geltende (niederrangige) Prinzip auch für die Ganzheit Gültigkeit.
„objektiv“. Die moderne Naturwissenschaft sieht die Allgemeingültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis nur dann als gesichert an, wenn das Subjekt Mensch als Beobachter ausgeschlossen wird. Nach dem dogmatischen Objektivitätsbegriff dieser Wissenschaft ist nur das objektiv existierend, was meßbar und berechenbar und durch Apparate nachweisbar ist. Außerhalb der modernen Wissenschaft, z. B. auf dem Gebiet der Ethik, ist ein anderer, weiter gefaßter Objektivitätsbegriff gebräuchlich, der das Subjekt Mensch einbezieht. Bei diesem Begriff wird unter „objektiv“ die intersubjektive Übereinstimmung und Reproduzierbarkeit von Aussagen verstanden.
    Für eine ganzheitliche Naturwissenschaft, die den Menschen in ihre Erkenntnissuche einbezieht, ist nur der letztgenannte undogmatische Objektivitätsbegriff annehmbar, wie das Beispiel der menschlichen Farbempfindungen zeigt. Goethe hat mit Farbempfindungen experimentiert und die Gesetze dieser Empfindungen durch den nach ihm benannten Farbenkreis repräsentiert. Zu diesen Gesetzen gelangt man ohne jegliche Messung und Mathematik. Farbempfindungen sind (im Gegensatz zu den Farbreizen, die dem materiellen Bereich angehören und der Messung zugänglich sind) übermaterielle Phänomene und können nicht außerhalb des Menschen durch irgendwelche Apparate nachgewiesen werden; sie gelten daher für die moderne Naturwissenschaft als nicht objektivierbar und daher als nicht existent. Gemäß dem undogmatischen Objektivitätskriterium sind die Farbempfindungen sehr wohl objektivierbar, da sie jedem (farbentüchtigen) Menschen eigen sind und eine zwischenmenschliche Übereinstimmung über diese Empfindungen erzielt werden kann. Die Frage, ob die menschlichen Farbempfindungen existieren oder nicht ist die Kernfrage in dem berühmten Farbenstreit zwischen Goethe und Newton. Bis heute ist weder von der Wissenschaft noch von der interessierten Öffentlichkeit wahrgenommen worden, dass es in diesem Streit um nichts weniger als die Frage geht, was unter einer Wissenschaft von der Natur zu verstehen ist und was nicht.

 
Anmerkungen

Goethe-Bibliographie:
WA = Goethes Werke. Weimarer Ausgabe (Sophienausgabe). 143 Bände, Weimar, 1887-1914.
Abt. I: Werke,
Abt. II: Naturwissenschaftliche Schriften,
Abt. III: Tagebücher,
Abt. IV: Briefe,
Abt. V: Gespräche.

Verwendete Abkürzungen von Aristoteles’ Werken:
De an.: De anima
De gen an.: De generatione animalium
An. post.: Analytica posteriora
Met.: Metaphysika

Koestler, A.: Der Mensch - Irrläufer der Evolution. Frankfurt/M. 1989.
2 De an. III 4, 429b.
3  De gen. an. II 33-36, 736a,b.
4 WA V 5, 331.
5 WA II 5b, 215.
6 WA V 6, 360.
7 WA II 4, 467.
8 WA II 6, 253.
9 Chargaff, E.: Das Feuer des Heraklid. Stuttgart 1988, S. 276.
10 Verein Deutsche Sprache e.V. Sprüche und Zitate zur deutschen Sprache. www.vds-ev.de/literatur/zitate.php
11 An. post. I 27, 87a
12 Bacon, Francis: Novum organum scientiarum, 1620.
13 Descartes, René: Discours de la méthode, 1637.
14 Galilei, Galileo: Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo, 1632.
15 Newton, Isaac: Philosophiae naturalis principia mathematica. London, 1687.
16 Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft [Vorrede]. Riga 1786.
17 Eigen, M.: Perspektiven der Wissenschaft Jenseits von Ideologien und Wunschdenken. Stuttgart 1988, S. 166.
18 Binnig, G.: Universitas 45 (4/1990), S. 388.
19 Eisler, R.: Kant-Lexikon. Hildesheim 1969. S. 198.
20 WA I 3, 91. Metamorphose der Tiere
21 WA II 4, 97. Newtons Persönlichkeit.
22 WA II 5a, 174. Über Newtons Hypothese der diversen Refangibilität.
23 WA II 1, XVI. Entwurf einer Farbenlehre. Vorwort.
24 WA V 4, 336. Gespräch mit Soret, F.J. 30. 12. 1823.
25 Eigen: Perspektiven der Wissenschaft. Jenseits von Ideologien und Wunschdenken. Stuttgart 1988. S. 142.
26 Weizsäcker, C. F. von: Der Mensch in seiner Geschichte. München 1991, S. 134.
27 Capra, F.: Wendezeit. Bern, München, Wien 1990. S. 103.
28 Lexikon der katholischen Dogmatik, (Wolfgang Beinert Hsg.) 3. Aufl., Freiburg, Basel, Wien 1991.


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