Im Angesicht der anscheinend unaufhaltsamen, existentiellen Bedrohungen, denen die Menschheit von heute gegenübersteht, lohnt es sich, darüber nachzudenken, ob der Mensch als ein Irrläufer der Evolution angesehen werden kann. Dieser Gedanke soll als Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen dienen.
Das Wort »Evolution«, wenn es sich auf den Menschen bezieht, ist mehrdeutig. Der Mensch ist das Ergebnis dreier Evolutionen: einer biologischen, einer neuropsychischen und einer geistigen Evolution. Den im folgenden beschriebenen drei Evolutionen ist gemeinsam, dass sie einen Lernprozeß repräsentieren und nach dem Prinzip von »Versuch und Irrtum« funktionieren, wobei für das Überleben untaugliche Varianten ständig aus dem Prozeß ausgeschieden werden.
Drei Evolutionen führten zur Menschwerdung: die biologische, die neuropsychische und die geistige Evolution. Als Ursache für das angesprochene selbstzerstörerische Verhalten des Menschen scheiden die ersten beiden Evolutionen aus, da dieses Verhalten bei Tieren bis hinauf zu den unmittelbaren Vorfahren des Menschen nicht beobachtet wird. Das häufig vorgebrachte Argument, dass die Neigung zur Selbstzerstörung ihre Ursache in der menschlichen Selbstsucht hat, kann nicht stichhaltig sein, denn diese Eigenschaft hat sich seit der Frühzeit des Menschengeschlechts nicht geändert. Die einzige noch mögliche Folgerung ist: von den drei Evolutionen ist es die geistige Evolution, die in die Irre gelaufen und für das selbstzerstörerische Verhalten des heutigen Menschen verantwortlich ist.
Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen und ein einzelnes Element der geistigen Evolution identifizieren, welches die eigentliche Ursache für das existenzbedrohende Verhalten des
Menschen ist. Aristoteles hat den Geist, der den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet, in zwei Kategorien unterteilt: die an den Körper gebundene und daher vergängliche Geistseele, die er auch als „leidensfähigen Geist“ bezeichnete,
und den vom Körper „abgetrennten Geist“, der leidenslos und unvergänglich ist; mit letzterem meinte er die durch Sprache und Schrift überlieferten Erfahrungen und Erkenntnisse der Vorfahren und Mitmenschen. Nun wird aber die Geistseele des werdenden Menschen, die Aristoteles mit einer leeren Schreibtafel vergleicht, die beschrieben werden muss
2, erst dann denkend und vernünftig, wenn in sie von außen der „abgetrennte Geist“, d. h. die Überlieferung einbricht
3. Wenn dieses „Einbrechen“ der Überlieferung durch besondere Umstände nicht erfolgen kann, bleibt die äußerlich als Mensch erscheinende Kreatur ihrem Wesen nach ein Tier, da ja erst die „beschriebene“ Geistseele den Menschen zum Menschen macht. Es muss daher eine bestimmte Art der Überlieferung sein, aus welcher das widernatürliche und unvernünftige Verhalten des modernen Menschen genährt wird.
Nun besteht die Überlieferung aus einer Unzahl von verschiedenen Erfahrungen, Meinungen, Erkenntnissen, Weisheiten und Irrtümern und jede Zeit nimmt sich aus dieser unübersehbaren Fülle diejenigen Teile heraus, durch die sie sich in ihrem „Zeitgeist“ bestätigt fühlt. Der Zeitgeist repräsentiert
somit einen ausgewählten und geistig wiederbelebten Teil der Gesamtüberlieferung. Wenn durch den Zeitgeist ein überlieferter Irrtum massenweise verbreitet und in der Folge nicht ebenso massenwirksam korrigiert wird, breitet sich dieser Irrtum in den betroffenen Gesellschaften wie eine hochansteckende Krankheit aus.
Goethe kommt das historische Verdienst zu, als erster einen fundamentalen Irrtum entdeckt zu haben, der die geistige Verfassung unseres modernen Zeitalters entscheidend mitbestimmt hat. Der Verursacher dieses Irrtums war der Begründer der modernen Naturwissenschaft Isaac Newton. Goethe hat den „Newtonischen Irrtum“, der besagt, dass „alles nur dann existiere,
wenn es sich mathematisch beweisen läßt
4“, mit seiner Farbenlehre leidenschaftlich bekämpft und versucht, diesen Irrtum „ein für allemal aus der Welt zu schaffen
5.“
Heute wissen wir, dass dieser Versuch vergeblich war. In einem Gespräch mit seinem Vertrauten Eckermann hat er die Multiplikatoren genannt, die für die Verbreitung solcher gravierender Irrtümer verantwortlich sind:
Die einseitige Denkweise der von Newton begründeten Naturwissenschaft bezeichnet Goethe als „Muster eigensinniger Verirrung des menschlichen Geistes
7“ und in einem von Eckermann festgehaltenen Gespräch mit dem Philosophen Hegel geht Goethe noch einen Schritt weiter und spricht von einer Geisteskrankheit, die aufkommt, wenn man „beim Studium der Natur“ nicht „durchaus rein und ehrlich bei Beobachtung und Behandlung seines Gegenstandes verfährt
8“.
Die von der modernen Naturwissenschaft ausgehende Denkweise ist in der Folgezeit wiederholt mit einer Geisteskrankheit verglichen worden. Erwin Chargaff, der selbst auf naturwissenschaftlichem Gebiet Hervorragendes geleistet hat, faßte seine Wissenschaftskritik in die Worte: